Das blaue Fahrrad
Als Mädchen in einem kurdischen Dorf das Fahrradfahren zu lernen, bedeutet eine besondere Herausforderung.
Von Lamia Hassow
Als besonders cool galten in unserem Dorf damals Familien, die ihren Kindern ab und zu teures Spielzeug kauften. Meine Familie war nicht sehr cool, aber zum Glück gab es in unserer Region die Tradition, dass jedes Kind im Grundschulalter einmal ein besonderes Geschenk bekam. In der Regel bekam das Mädchen eine Puppe, die in irgendeiner Weise beweglich war. Der Junge bekam ein Fahrrad. Es ist also nicht schwer einzuschätzen, was ich bekam.
Lolo, meine Puppe, konnte laufen. Das fand ich am Anfang toll, aber dann wurde es schnell langweilig. Mein Bruder konnte mit mir das kurze Wunder dieser laufenden Puppe genießen. Es war für uns beide ungefährlich, mit ihr zu spielen. Umgekehrt konnte ich jedoch nicht mit seinem Fahrrad fahren.
Diese Begründung erschien mir schon als kleines Mädchen unlogisch.
Für ein Mädchen ist es gefährlich, Fahrrad zu fahren. Das Jungfernhäutchen könnte beschädigt werden (was für ein Mädchen einer Todesstrafe gleichkommt). Als ich darauf bestand, mit dem Fahrrad zu fahren, wurde mir der entscheidende Grund für das Verbot erklärt: Mädchen ist es nicht erlaubt, Fahrrad zu fahren. Nur Jungen dürfen Fahrrad fahren. Diese Begründung erschien mir schon als kleines Mädchen unlogisch.
Die Begeisterung meiner Brüder fürs Fahrradfahren motivierte mich, das Verbot zu ignorieren – und ich beschloss, das Fahrrad heimlich zu nehmen und mir selbst das Fahrradfahren beizubringen. In unserem Dorf schliefen fast alle Erwachsenen nach dem Mittagessen. Das war meine Chance! Mit dem blauen Fahrrad an meiner Seite lief ich zu einem Platz, der ein bisschen höher gelegen war und ließ mich mit dem Fahrrad den Hang herabrollen. Zuerst benutzte ich meine Füße, um das Gleichgewicht zu halten. Dann schaffte ich es, ohne mich mit den Füßen abzustützen. Als ich das Gleichgewicht beherrschte, versuchte ich, in die Pedalen zu treten.
Natürlich lief mein Bruder zu unserer Mutter und beschwerte sich bei ihr über mich. Aber mein Wunsch, das Fahrradfahren zu lernen, war größer als meine Angst vor einer Strafe. Immer wieder nahm ich das Fahrrad, um in den Mittagspausen zu üben. Eine besondere Herausforderung für mich lag darin, auf keinen Fall herunterzufallen und mir die Knie aufzuschlagen. Das habe ich mir selbst fest versprochen! Denn mit aufgeschlagenen Knien hätte ich für alle sichtbar als schwaches Mädchen dagestanden, das nicht mit einem Fahrrad fahren kann. Und tatsächlich habe ich mein Versprechen gehalten: Ich habe gelernt, auf einem Fahrrad zu fahren – ohne einen einzigen schmerzhaften Sturz.
Inzwischen bestand ein strenges Verbot für mich, das blaue Fahrrad zu nehmen. Da ich zu dieser Zeit aber bereits ein Fahrrad-Profi war, nutzte ich die Gelegenheit, um die noch größeren Fahrräder meiner älteren Brüder und Cousins zu nehmen.
Heute bin ich eine erwachsene Frau. In Bochum habe ich einen Kurs besucht, um auch auf den Straßen mit dem Fahrrad fahren zu können. In diesem Kurs achtete ich jedoch nicht sehr darauf, ob ich fiel oder nicht. Ich hätte tausend Mal stürzen können, es hätte mir nichts ausgemacht! Denn heute weiß ich, dass ich stark bin. Egal, was andere denken.
Dieser Beitrag erschien 2018 in der 11. Ausgabe der Zeitung Neu in Deutschland (3/2019).
Kontakt Lamia Hassow: hassow-l@hotmail.com