Wie könnte jemand unsere Wunden fühlen?
Von Thamer Khale
Wer das Foto neben diesem Text anschaut, sieht darauf: Steine, Trümmer, Ruinen. Wer das Foto mit dem Herzen betrachtet, ahnt, dass hier einmal Häuser standen, in denen Menschen gelebt haben. Was jedoch keiner sehen und auch nur ahnen kann: Genau hier habe ich meine Kindheit verbracht. Hier hatten wir unser Leben. Und dieser wunderbare Ort wurde zu jenem Ort, an dem meine Freunde geschlachtet wurden.
Verstehen Sie, was ich sage? Diesen Ort habe ich gelebt und geliebt. Ich verbrachte dort die schönsten Tage meines Lebens. Doch man brachte mich dazu, diesen Ort zu hassen. Verstehen Sie, was ich sage?
Heute sind viele Menschen aus meiner Heimat in Europa. Dortmund ist meine neue Stadt geworden. Mit einem freundlichen Lächeln wurde mir das Wort „Flüchtling“ auf die Stirn geklebt. Viele Menschen haben uns geholfen und dafür bin ich dankbar. Doch das Wort „Flüchtling“ klingt in meinen Ohren wie eine Beleidigung. Verstehen Sie, was ich sage?
Das gleiche Gefühl habe ich, wenn ich drei Mal in der Woche durch die Türen des Jobcenters trete. Die Hilfe, die ich dort erhalte, schlägt mir wie eine Beleidigung entgegen.
In meiner Heimat im Irak führten wir ein einfaches Leben. Den Wohlstand der Menschen in Europa kannten und vermissten wir nicht. Unser Wohlstand war ein anderer.
Wir kamen nicht nach Deutschland, um zu klagen oder um über unsere Wunden zu reden.
Es gibt zwei Dinge, um die ich die Menschen in Europa bitten möchte. Erstens: Vergleicht bitte unser Leben nicht mit Eurem Leben. Welches ist besser, wer ist stärker – wer kann das sagen? Die meisten Menschen in Europa haben nie gelebt, wie wir gelebt haben. Sie tragen nicht das Leid, das wir erlitten haben. Und zweitens: Sagt nicht, dass Ihr unsere Wunden fühlt. Nicht einmal in unserer eigenen Sprache könnten wir unsere Wunden beschreiben.
Dieser Text erschien 2018 in der 11. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland >>PDF blättern