Als der Corona-„Lockdown“ in Deutschland beginnt, ist die kurdische Englischlehrerin Lamia Hassow gerade damit beschäftigt, ihre Abschlussarbeit für eine pädagogische Weiterbildung fertigzustellen. Anschließend steht eine praktische Prüfung an. Wobei lange unklar bleibt, ob und unter welchen Umständen diese stattfinden kann.
Von Lamia Hassow
Ich sitze zu Hause und mache mir Gedanken über Corona. Mein Leben ist anders geworden, seit Corona mit uns im Haus lebt, oder vielmehr: seit der Gedanke an Corona überall um uns herum ist. Was hat Corona mir gebracht? Was hat Corona mir genommen? Was wird anders bleiben? Wenn ich an Corona denke, fallen mir sehr unterschiedliche Adjektive ein.
Aufregendes Corona: Für mich persönlich ist die Corona-Krise eng mit einem anderen aufregenden Ereignis verbunden: Ich stehe vor meiner Abschlussprüfung als staatlich anerkannte Erzieherin. Um in Deutschland Arbeit zu finden, habe ich vor zwei Jahren eine Vollzeit-Weiterbildung begonnen. Seitdem höre ich von allen Seiten, dass die „Externenprüfung für Erzieher*innen“ besonders schwierig ist. Das macht mir Kopfschmerzen. Zumal die praktische Prüfung nur ein einziges Mal gemacht werden darf. Wer beim ersten Mal durchfällt, ist raus. Lernjahre hin, Lernjahre her. Corona hin, Corona her.
Für mich ist das alles aufregend genug, denn meine Zukunft in Deutschland hängt davon ab.
Daran muss ich immer denken, während ich die Texte lese, dabei immer wieder Wörter im Lexikon nachschlage, nochmal lese, übersetze, Vermutungen anstelle, Freunde anrufe, auf Antworten warte, wichtige Stellen markiere, nochmal lese, und den Anfang wieder vergessen habe.
Die Kita, in der ich arbeite, ist geschlossen. Die Stadtbücherei ebenfalls. Ich erarbeite ein Konzept, ohne zu wissen, ob und wie ich es durchführen können werde. Werden die Kinder, auf die ich mich vorbereite, überhaupt bei der Prüfung anwesend sein? Zum Glück habe ich ein starkes Netzwerk an Freund*innen und Kolleg*innen. Aber die meisten sind in diesen Tagen stark mit ihren Familien beschäftigt, oder arbeiten online. Auf ihre Antworten muss ich meist lange warten. Das ist kein Vorwurf, ich verstehe sie gut! Und gleichzeitig verzweifle ich manchmal, wartend an meinem Schreibtisch.
Augenöffnendes Corona: Vor Corona habe ich meine bevorstehende Prüfung als etwas Lästiges angesehen. (Vor allem deshalb, weil ich nicht einmal weiß, ob ich danach bessere Chancen habe, eine Arbeit zu finden.) Es ist mir sehr schwer gefallen, länger als eine halbe Stunde über meinen Büchern zu sitzen, und wenn ich etwas nicht verstanden habe, war es mir zu mühsam, nach einer Erklärung zu suchen. Jetzt, in der Corona-Zeit, ist auf einmal alles anders! Ich sitze stundenlang am Schreibtisch – und wie eine Streberin versuche ich alle Aufgaben zu lösen, je schwieriger, desto besser. Ich jage den Informationen hinterher und vergesse sogar, Pausen zu machen. Vor Corona habe ich oft gedacht, dass ich das alles nicht schaffen kann. Jetzt denke ich, dass ich die Prüfung bestehen muss, und ich werde es schaffen! Ich bin wirklich stolz auf mich.
Überraschendes Corona: Seit ich in Deutschland bin, habe ich von vielen Freunden Bücher geschenkt bekommen. Darüber habe ich mich jedes Mal gefreut, aber ehrlich gesagt, hatte ich bisher nie große Lust, deutsche Bücher zu lesen. Vielleicht fehlte mir auch einfach die Ruhe. Wenn ich vor der Entscheidung stehe, rauszugehen oder ein Buch zu lesen, dann gehe ich immer raus. Corona hält mich drinnen. Irgendwann habe ich angefangen, in den Büchern, die auf meinen Regalen geschlafen haben, zu lesen. Ich war überrascht! Das Lesen hat mir großen Spaß gemacht! Hoffentlich behalte ich diese Erfahrung in meinem Kopf, auch wenn ich irgendwann wieder die Wahl habe, draußen etwas mit Freunden zu unternehmen…
Unsympathisches Corona: Am schlimmsten ist für mich während der Corona-Krise, dass ich die Menschen, die ich liebe, nicht mehr umarmen darf. Ich vermisse es, mit ihnen zu lachen, zu reden, Zeit zu verbringen, zu Veranstaltungen zu gehen.
Schönes Corona: Seit Corona mache ich wunderschöne Spaziergänge in der Natur! Ich habe noch nie in meinem Leben so intensiv den Gesang der Vögel wahrgenommen, wie schön sie singen! Ich höre auf die Stimme in mir drin, lausche meinen Gedanken. Es ist schön, eine Ruhe und Dankbarkeit in mir selbst zu spüren.
Komisches Corona: Als die Lage in Italien anfing so schlimm zu werden, sah auf den Straßen von Deutschland erst einmal alles noch ganz normal aus. Ich erinnere mich, dass ich fröhlich in der Stadt herumgelaufen bin – aber dann habe ich über die sozialen Medien sehr aufgeregte Nachrichten gelesen und plötzlich habe ich kaum noch etwas angefasst, hatte große Angst, dass mein Speichel irgendwohin kommen könnte, falls ich Corona habe.
Seit dem Lockdown in Deutschland bewegen die Menschen sich ganz anders: skeptisch und langsam. Überall ist die Furcht zu sehen, dass man eine andere Person anstecken könnte. Das ist ja auch richtig und ich verstehe die Angst! Trotzdem muss ich manchmal an Zombie-Filme denken, wenn ich draußen herumlaufe.
Dankbares Corona: Über die vielen Menschen, die durch Corona gestorben sind, bin ich sehr traurig geworden. Umso mehr habe ich an die Menschen gedacht, die mir wirklich wichtig sind, und die mich lieben. Ich bin dankbar, dass es Euch in meinem Leben gibt!
Dieser Text erschien 2020 in der 18. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“. Die Zeitung online lesen: http://weborama.de/neu_in_deutschland/18/
1 Kommentar
Kommentieren →Wunderbarer Text zu den unterschiedlichen Facetten der Corona-Zeit. – Danke Lamia !!!