Das Gewebe von Vergangenheit und Gegenwart
Die Erfahrungen von Exil und Flucht reichen in manchen Familien schon mehrere Generationen zurück.
Von Albaraa Alsaadi
Ein Ährenkranz wartet auf seinem Erdboden… Auf meinem Land wäre es ein goldener, aufrechter Ährenkranz. Hier nährt er in seinem Wurzelwerk immer noch das Gewebe von Vergangenheit und Gegenwart.
Mein 90-jähriger Großvater starb im zweiten Jahr der friedlichen Revolution, dem Volksaufstand oder dem von den Medien so genannten syrischen Krieg. Damals dachte ich: Unglaublich! Wie viel Geduld, wie viel Standhaftigkeit er hatte! Mit seinem schönen Gewand, seinem gebeugten Rücken, mit den gespeicherten Tränen in seinen Augen, den Tränen, die auf ein Kind warten, um es zu küssen, und damit das Alter und die Trauer des Lebens in seinem Herz abzulöschen.
Im Haus meiner Familie waren die Geschichten der Auswanderung immer anwesend. Das große Familienhaus, in dem für die Spatzen der Flüchtlinge, für den Wind des Schwarzpulvers ein Spalt aufgelassen wurde, Tage, Monate, Jahrzehnte.
War der Weg der Flucht immer gepflastert? Frag mich nicht. Niemand weiß es. Im Al Nakba, im Al Naksa, im Jom-Kippur-Krieg, im Sechstagekrieg, nach dem Oktober-Krieg, in jedem Spiel von Schwarzpulver…
Immer eine rote Karte, sie schneidet sein Leben, das Leben der Familie. Die Karte wird gezeigt vom Schiedsrichter der Vertreibung… Mein Großvater erfuhr nicht mehr, dass er uns nicht
begleiten würde. Vielleicht erleichtert dies das Leiden, angesichts seines reichen Leidens…
Sie sterben und die Trauer der Obdachlosigkeit ist in ihren Herzen: Unsere Großeltern, ihr Erinnerungsvermögen, hinter dem Zaun, ein Krug voller Unterhaltungen. Zu unseren Großeltern, in ihren kuscheligen Gräben, ein einbalsamiertes Erinnerungsvermögen, mit Dinkel und Rückkehr…
Umkehr… Sie lehrten uns, dass es kein Fortgehen ohne Rückkehr gibt. Nach jedem Hinflug gibt es einen Rückflug. Auf dem Weg zur Hütte beschließen wir, wenn er nicht auf dem beblümten Bordstein sitzt, dass wir der staubigen Strecke folgen, die durch die Füße und Lasten der Flucht geebnet wurde.
Umkehr… Dieses Wort ließ die Zunge meines Vaters tropfen. Er nutzte jeden Moment, jedes Treffen, um unserer Großmutter, der Familie, den Männern unserer Gasse, seinen Freunden, den Nachbarn davon zu erzählen. Meine Ohren hörten das optimistische Reden: Wir werden bleiben, solange die Erde bleibt. Das dritte Jahr vergeht, das vierte, das fünfte. Es vergeht auch das sechste und das siebte Jahr. Ich höre immer seine Stimme, sie ruft mich… Umkehr. Ich erblicke seine Augen, ich lese das Wort Umkehr darin.
Das Quietschen der Hoffnung wird immer deutlich gehört, und es wird lauter sein als Stimme des Krieges. Das ist die Armut der syrischen Menschen. Sicherheit und Geborgenheit sind für sie unbezahlbar geworden.
Dieser Text erschien 2018 in der 12. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ – in Kooperation mit „Writers‘ Room“. Albaraa Alsaadi engagiert sich für das Düsseldorfer Schreibprojekt „Schreiben ohne Grenzen – Writers‘ Room“. Im Frühjahr 2018 besuchte das „Writers‘-Room“-Team um Maren Jungclaus (Foto) vom Literaturbüro NRW das nid-Team in Bochum.