Dass alte Frauen hier bunte Kleider tragen, gibt mir Hoffnung!

Dass alte Frauen hier bunte Kleider tragen, gibt mir Hoffnung!

Es war Winter, als ich in Deutschland ankam, und ich kann mit Worten kaum beschreiben, wie unerträglich das kalte und düstere Wetter für mich ist. Um nicht zu erfrieren, muss ich sehr dicke Sachen anziehen, die mich wie ein Pinguin aussehen lassen. Aber in genau diesen
ersten Wochen in Deutschland erlebte ich meinen ersten wundersamen Moment des Glücks. Das Glück öffnete sich mir wie eine Tür in der Dunkelheit und ließ unerwartet Licht hinein.
Dunkel waren vor allem meine Gedanken darüber, dass ich als 30-jährige Frau in diesem Land von Null anfangen musste, dass meine Chancen gering waren und meine Zukunft ungewiss. Aber dann sah ich plötzlich etwas Helles und dieses Glück überfällt mich seitdem immer wieder. Und zwar immer dann, wenn ich hier in Deutschland ältere Frauen sehe. Ja, die alten Frauen mit ihren bunten Kleidern und farbenfrohen Frisuren hier zu sehen, macht mich glücklich! Viele haben auch graue Haare – das schert sie überhaupt nicht! In meinen Augen ist es mutig, graue Haare zu tragen. Diese Frauen sagen uns damit: Ich mache, was mir gefällt, und es ist mir nicht wichtig, was andere darüber sagen oder denken. Sie akzeptieren sich so, wie sie sind. Sie sind ehrlich zu sich und ihrem Alter. Jedenfalls lese ich das in ihren Haaren und dem, was sie ausstrahlen.
Und deshalb, bitte, ihr Frauen in den bunten Kleidern und mit den grauen Haaren: Hört nicht auf damit, diesen Zauber auf den Straßen zu verbreiten! Denn ihr ahnt gar nicht, wie glücklich ihr mich macht, immer wieder, wenn ich euch sehe! Ihr öffnet Türen in meinem Kopf – und mit euch stapfe ich sogar mutig durch das kalte, düstere Wetter!
Dieser Text erschien in der siebten Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ (3/2017).

Beim DGB Mediensommer in Hattingen im August 2017 trug Lamia Hassow ihren Text im Rahmen einer Lesung vor. Über diese Lesung und die Zeitung „Neu in Deutschland“ entstand im gleichen Zusammenhang eine kurze Dokumentation:

„Der Zauber der Sprache“ >>LINK (8 Min.)
von Sven Adiek, Oliver Grydka, Markus Stiehm, Jörg Stroisch

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