Sechs Kinder

Von Amir Ahmed                                                               Übersetzung Nahed Al Essa

Nach zwei Jahren in Deutschland verstehe ich endlich, warum hier nur wenige Familien sechs Kinder bekommen. Kinder bedeuten viel Arbeit und Mühe. Ich selbst habe drei Kinder. Unser Sohn geht in die dritte Klasse, eine Tochter geht in die zweite Klasse und unsere jüngste Tochter ist sechs Monate alt. Irgendetwas ist immer und manchmal fühle ich mich unter Druck.

Ich bringe meine beiden ältesten Kinder zur Schule – weil es die Deutschen so machen. Als ich selbst ein Kind war, gab es nur einen Jungen in unserer Klasse, der von seinen Eltern zur Schule gebracht wurde. Er wurde von uns allen dafür ausgelacht. Aber in Deutschland machen es fast alle Eltern so, dass sie ihre Kinder überallhin bringen, also machen wir es genauso. Wir bringen unsere Kinder zur Schule, zum Sport, zum Arzt, zu Freunden. Ist das richtig oder falsch? Ich weiß es nicht. Wir machen es nur, um nicht anders zu sein.

Amir Ahmed mit seinen drei Kindern in Herne – fotografiert von seiner Frrau Mayada Al Ahmed.

Unsere syrischen Nachbarn machen es übrigens anders. Sie lassen ihre Kinder allein zur Grundschule gehen, wie sie es aus unserer Heimat kennen. Jetzt sind ihre Kinder allerdings neidisch auf unsere Kinder. Und ich finde kaum mehr Zeit für mich.

Meine Mutter hatte sechs Kinder. Mit ihr telefoniere ich regelmäßig. Sie lebt noch in Syrien. Wenn wir telefonieren, erzähle ich ihr auch von meinen kleinen Problemen im Alltag, die im Vergleich zur aktuellen Lage in Syrien natürlich winzig sind.

Meine Mutter fragt mich: „Was ist los, was macht dich müde?“-„Ach, Mutter“, sage ich dann„wie hast du es geschafft, sechs Kinder großzuziehen? Du hast ja keine Vorstellung davon, wie genau wir unsere Zeit planen müssen, um unsere Kinder zu versorgen!“ Sie antwortet: „Aber mein Sohn, das ist unvorstellbar! Du hast nur drei Kinder! Wie können sie dich so müde machen? Lass das nicht deine Nachbarn und Verwandten hören, sie sollen so etwas von dir nicht erfahren! Vergiss nicht, dass ich deine Geschwister und dich ohne Probleme großgezogen habe. Heute bereue ich es sogar, dass ich nicht noch mehr Kinder bekommen habe.“

Wirklich? Aber das kann doch nicht leicht gewesen sein!“
Doch. Das war es.“
Dann bist du ein großartiger Mensch, so tapfer und belastbar. Und es ist dir alles so gut gelungen.“

Meine Mutter galt übrigens damals, als wir klein waren, als besonders moderne Frau: weil sie die Entscheidung getroffen hatte, dass sie nur sechs Kinder haben wollte. Das war lange das Hauptthema in unserer kleinen Stadt.

Dieser Text erschien 2018 in der 10. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.

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