Vor 30 Jahren ist die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland gefallen. Rawend Ali hat viele Berichte zu diesem Jahrestag gesehen und dabei immer wieder auch an seine Heimat gedacht.
Von Rawend Ali
Ich bin zwar kein Deutscher und wohne erst seit fünf Jahren in Deutschland. Trotzdem kriege ich Gänsehaut, wenn ich mir Videos vom Tag des Mauerfalls in Berlin anschaue. Ich kann mir vorstellen, wie froh die Menschen damals gewesen sein müssen, dass keine Mauer sie mehr trennen konnte, dass sie ihre Familien, Verwandte oder Freunde wieder besuchen konnten, ohne Angst zu haben.
Ich komme aus einem geteilten Land, in dem es sehr schwer ist, Grenzen zu überqueren. Einige sind bei diesem Versuch sogar ums Leben gekommen. Meine Heimat ist Rojava*.
Meine Urgroßeltern sind in Şirnex (türkisch: Şırnak)** geboren und zogen später nach Derik, etwa 100 Kilometer östlich von Qamishlo. Meinen Urgroßvater habe ich nicht mehr kennengelernt, aber meine Uroma erzählte bis kurz vor ihrem Tod immer wieder von dem schönen Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen ist. Und sie sang immer ein altes kurdisches Volkslied, das übersetzt den Titel „Oh, Exil“ trägt. Die Grenze zwischen Rojava (im heutigen Syrien) und der kurdischen Region in der heutigen Türkei war bis zum Ende der 70er-Jahre nicht wirklich spürbar. Die Menschen, die an der Grenze lebten, besuchten sich regelmäßig gegenseitig und bemerkten die Grenze gar nicht. In den Köpfen gab es die Grenze nicht.
Anfang der 80er-Jahre wurden die Grenzen dichter und es war verboten, die Linie zwischen diesen Gebieten zu überschreiten. Dies war nur an den staatlichen Grenzübergängen möglich. Ein großer Teil unserer Bevölkerung war damals jedoch staatlich nicht anerkannt, viele Kurdinnen und Kurden besaßen nicht die syrische Staatsbürgerschaft. Wer keinen Pass hatte, konnte die Grenze nicht überschreiten. Für diese Menschen war es unmöglich, ihre Familien zu besuchen. Sie konnten zudem keine Häuser oder Grundstücke besitzen und durften nicht studieren.
Ich lebe nun in Deutschland. Meine Familie in Qamishlo habe ich vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen. Meine Verwandten in der kurdischen Region in der Türkei und im Irak kann ich ebenfalls nicht besuchen. Der syrische Bürgerkrieg hat unsere Regionen und die Menschen, die dort leben, wieder auseinander gebracht. Seit 2017 gibt es zwischen Syrien und der Türkei eine 700 Kilometer lange Mauer.
In meinen Augen darf kein Staat, keine Politik und kein Gesetz das Recht haben, einen Menschen von seiner Familie oder von anderen geliebten Menschen zu trennen. Ich kann das nur immer wieder sagen. Es ist wichtig, so ein Problem hervorzuheben, damit Menschen versuchen, hierfür Lösungen zu finden.
*Die autonome Administration von Nordund Ostsyrien.
**Eine kurdische Stadt in der Türkei
Dieser Text erschien 2021 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“.