Nach einem Ausflug zum Kemnader See spürt Azeddin Darmach (69) seine Beine nicht mehr – aber große Zufriedenheit.
Donnerstag, 30. März 2017
Unsere liebe Lehrerin, Katharina Nagel, schickt uns eine Nachricht per WhatsApp: „Hallo, ich mache morgen spontan mit meinem Kurs einen Ausflug zum Botanischen Garten und von da zum Kemnader See. Wenn jemand Zeit und Lust hat mitzukommen, kann er gerne um 10:45 Uhr zur Kirche kommen.“
Ich schreibe direkt: „Ich komme gerne.“ „Das freut mich“, antwortet Frau Nagel. Wir sind Teilnehmer eines B2-Kurses bei Frau Nagel und sie macht den Ausflug hauptsächlich mit den TeilnehmerInnen des B1-Kurses.
Es ist Frühlingsanfang und ein Ausflug in die Natur wird uns eine gute Erholung bringen. Außerdem lernen wir auch die Kolleginnen und Kollgen des anderen Kurses kennen. Ich leite Frau Nagels Nachricht an einen anderen Teilnehmer in meinem Kurs weiter: an meinen Sohn. Er stimmt zu, auch mitzukommen.
Mein Sohn ist übrigens Arzt. Als unsere Lehrerin erfährt, dass er mitkommt, schreibt sie ihm: „Schön. Falls sich jemand verletzt, kannst du uns helfen!“
Freitag, 31. März, 11 Uhr
Wir fangen an, langsam zum Bochumer Hauptbahnhof zu gehen, um mit der U35 zur Uni zu fahren. „Haben Sie Ihre Schafe gezählt?“, frage ich die Lehrerin. – „Was?“ fragt sie. Weil sie die arabische Beduinen-Kultur nicht kennt. „Ich meine: die Schüler sind heute Ihre Schafe und Sie sind die Schäferin. Also sollten Sie wissen, wie viele Schafe da sind.“ – „Ach so“, sagt sie. „28.“ – „Schön“, sage ich. „Und was ist der Plan für den Ausflug?“ Sie wendet sich an einen Teilnehmer, um ihm die Frage zu erklären. Sie lachen – und bald ist es vergessen. Ein sehr spontaner Ausflug.
„Schön, dass es etwas Wertvolles an diesem stinkenden Ort gibt.“
Bis zum Bahnhof haben wir einige Schüler kennengelernt. Sie stammen aus Aleppo, wie wir, und eine warme Beziehung entsteht zwischen uns.
Dann sind wir an der Uni. Es ist wirklich ein perfekter Frühlingstag, mit etwas Sonnenschein und herrlicher Brise. Wir bewegen uns an einem Gebäude vorbei zum nächsten. Dann beginnen die Leute, viele Treppen zu besteigen, mehr als 100 Stufen, glaube ich. Bis wir auf ein Dach kommen und sie dort anhalten, um hinunterzuschauen. „Was ist das?“, frage ich. – „Eine Aussicht“, antwortet die Lehrerin. – „Haben Sie uns dazu gebracht, alle diese Treppenstufen hinauf zu klettern, um eine blöde Aussicht des Botanischen Gartens zu sehen?“ – „Das hätte ich nie getan!“ Ich bin übrigens fast 70 Jahre alt und der Vater von sieben erwachsenen Menschen, außerdem der Opa von zehn Enkelkindern. Also sind meine Beine zu schwach, um alle diese Treppenstufen hinaufzuklettern, um eine Aussicht zu genießen.
Hundert Treppenstufen weiter unten betreten wir den Botanischen Garten. Es ist klar, dass jedes Beet dieses Ortes gut bestellt ist. Die kleinen Beete sind mit Schildern versehen. Aber die sind so klein, dass man ein Mikroskop braucht, um zu lesen, was auf ihnen geschrieben steht.
„Warum sind die Schilder so groß?“, frage ich ironisch. Und die Leute um mich herum lachen. Auf meine Frage, wo denn nun der chinesische Park sei, sagt unsere Leherin: „Geduld, Geduld! Wir kommen bald dorthin.“ Dann sind wir in einer Anlage mit mehreren chinesischen Symbolen. Wir laufen auf engen Wegen mit viel stickiger Luft und schmutzigem, stinkendem Sumpfwasser und ersticken fast.
„Ist das ein chinesischer Park oder ein chinesischer Stall?“, frage ich die Lehrerin. – „Schau Dir diese Fische im Teich an“, antwortet sie. „Sie sind sehr teuer. Ein Fisch kann mehr als 3000 Euro kosten.“ – „Schön, dass es etwas Wertvolles an diesem stinkenden Ort gibt“, sage ich. Und wir laufen schnell raus.
Natürlich gibt es Leute, die den Ort genießen, besonders das frisch verheiratete Paar, das uns auf diesem Ausflug begleitet. Sie genießen sowieso alles. Sie machen so viele Fotos überall. Wir gehen weiter im Botanischen Garten. Ich fühle, dass meine Füße zwei Meter hinter mir schleifen. „Machen wir keine Pause?“, frage ich. – „Das machen wir“, sagt unsere Lehrerin. „Ich habe Kopfschmerzen.“ Aber die Kolleginnen und Kollegen gehen weiter.
„Beim Einpacken bemerken wir, dass zwei Personen fehlten.“
Dann schreit ein schönes Mädchen in der Gruppe plötzlich: „Seid vorsichtig! Sie können Arabisch! Sie können der Lehrerin alles übersetzen.“ (Sie meinte uns beide, vom B2-Kurs.) Ich drehe mich zu ihnen um und sage, dass wir natürlich Arabisch und noch andere Sprachen können. Man soll immer vorsichtig sein. Und alle lachen. Unsere Lehrerin ist übrigens so geduldig und sanft, dass sie all ihren Schülerinnen und Schülern gut gefällt.
Ich finde ein paar Stufen irgendwo und falle auf sie. Frau Nagel wirft sich neben mich. Und alle anderen setzen sich irgendwo am Wegesrand. Eine ganz spontane Pause ist gemacht. Einige packen Essen und Getränke aus. Andere bereiten sich vor, Schischa zu rauchen, wieder andere trinken Bier. Als wir endlich zum Kemnader See kommen, sind wir alle erschöpft, da wir die letzte Strecke zum See zu Fuß zurückgelegt haben.
Ich finde einen schattigen Platz, von dem aus man den See übersieht und werfe mich auf den Boden. Nach einer Weile kommen alle zusammen, um das Picknick zu machen. Es ist wirklich ein perfekter Frühlingstag, milder Sonnenschein, sanfte Luft, grüner Boden und funkelndes Seewasser, und die Leute waren so sanft und freundlich miteinander, dass eine richtige Frühlingsausflugsatmosphäre entstanden ist.
Nach dem Essen und Trinken gehen einige zum See, um zu paddeln, etwas Spaß zu haben, wie die Lehrerin sagt. Andere führen leichte Unterhaltungen oder rauchen Schischa. Natürlich bleibe ich dort liegen, wo ich bin, da ich jetzt keine Beine mehr habe, um mich irgendwohin zu tragen.
Schließlich, als wir anfangen, unsere Sachen einzupacken, um zurückzugehen, bemerken wir, dass zwei Personen fehlen. Tatsächlich, die beiden Verliebten, die während des ganzen Ausflugs ihre Zeit so sehr genossen haben. Die Lehrerin versucht, sie auf dem Handy zu erreichen. Aber niemand antwortet. Sie sind einfach verschwunden. „Wohin sind ihre Schafe gegangen?“, frage ich. – „Ich weiß es nicht“, sagt sie. – „Aber Sie sind die Schäferin! Sie sind verantwortlich für Ihre Schafe.“ – „Ja, aber nicht für verliebte Schafe“, sagt sie lachend.
Wir kommen sehr glücklich von diesem spontanen Ausflug zurück. Nur meine Beine! Ach, meine Beine!