Herzklopfen und warmes Essen

Manche Begegnungen funktionieren wortlos, bei anderen helfen nicht einmal Gestik und Mimik. Azar Azarshahi aus dem Iran erzählt, wie sie mit der englischen Sprache in deutschen Behörde gescheitert ist, und warum sie hier zuerst Türkisch gelernt hat und dann erst Deutsch.

Von Azar Azarshahi

Als ich nach Deutschland kam, war ich traurig und hilflos. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich in diesem Land zu einer starken Frau werden würde, mit zwei neuen Sprachen und einer Arbeitsstelle. Mein Herz hat mir jedoch immer das Gefühl gegeben, dass ich nicht aufgeben darf.

Mein Land habe ich verlassen und auch meine Familie musste ich im Iran zunächst zurücklassen. Neben meiner Muttersprache Persisch hatte ich in der Schule Englisch gelernt. Die englische Sprache hat mir wahrscheinlich dabei geholfen, Deutsch zu lernen. Auf meinen Wegen durch deutsche Behörden hat mir das Englische allerdings nicht geholfen. Denn in deutschen Behörden wird Deutsch gesprochen. Punkt.

In den ersten Monaten und Jahren war ich mit viel Gestik und Mimik im Einsatz, auf diese Weise habe ich auch meine Lebensgemeinschaft mit dem Jobcenter gemeistert. Doch immer, wenn ein Brief von einer deutschen Behörde in meinem Briefkasten landete, löste dies bei mir großen Stress aus, ich bekam Angst und mein Herz klopfte laut. So ein starkes Herzklopfen hatte ich seit meiner Jugend nicht mehr gespürt. Damals war ich zum ersten Mal verliebt gewesen. Das Herzklopfen aus Liebe ist genauso stark, aber viel schöner.

Ich wusste, dass ich etwas gegen meine eigene Hilflosigkeit unternehmen musste, aber ich fand keinen Weg. Damals gab es für Geflüchtete noch nicht die Möglichkeit, einen Deutschkurs zu besuchen. Natürlich hätte ich mich bei einer Sprachschule anmelden können, aber die Gebühren hätte ich niemals bezahlen können. Ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld kein Deutschkurs. Heute gibt es ja auch viele kostenlose Online-Angebote, aber das gab es in den 1990er-Jahren noch nicht.

So habe ich dagesessen und darüber nachgedacht, was ich eigentlich kann. Die Welt betrachtete ich von Deutschland aus mit anderen Augen, und auch die Welt sah in mir eine andere Person.

Einmal, ganz am Anfang meiner Zeit in Deutschland, hatte ich einen Termin bei der Ausländerbehörde. Meine Sachbearbeiterin gab mir ein Blatt Papier in die Hand. Ich solle das unterschreiben. Auf Englisch habe ich sie gefragt, was auf diesem Papier steht. Ich wollte wissen, was ich unterschreibe. Sie hat mir auf Deutsch geantwortet und ich habe kein Wort verstanden. Ich erinnere mich, dass sie ein bestimmtes Wort drei Mal wiederholt hat: „Quittung“. Irgendwann habe ich verstanden, was sie meinte und seitdem weiß ich auch, was das Wort Quittung bedeutet. Eine Quittung hat eine hohe Bedeutung in Deutschland. Für mich war Quittung eines der ersten Worte, die ich in Deutschland gelernt habe.

Nach dieser Erfahrung in der Ausländerbehörde war ich sehr verzweifelt und ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich die
deutsche Sprache nicht beherrschte. Wie konnte ich in dieses Land kommen, ohne die Sprache sprechen zu können? Ich rannte aus dem Gebäude hinaus und Tränen strömten aus meinen Augen, ohne dass ich es bemerkt hatte.

Draußen sprach mich eine Frau an. Sie hatte meine Hilflosigkeit gespürt. Sie hatte gesehen, dass ich außer mir war und sie konnte meine Tränen lesen. Mit leisen, zarten Worten sprach sie auf mich ein. Ich habe kein Wort verstanden von dem, was sie sagte, aber ich habe sehr deutlich verstanden, dass sie es gut mit mir meinte. Und ich habe ihr auf Persisch geantwortet. Das Sprechen war so wohltuend und beruhigend. Wir konnten beide die Bedeutung unserer Worte verstehen, obwohl wir unterschiedliche Sprachen benutzten.

Deshalb spielte es auch keine große Rolle, dass sie gar nicht auf Deutsch mit mir sprach. Die junge Frau sprach auf Türkisch mit mir. Und interessanterweise wurde Türkisch die erste Sprache, die ich in diesem neuen Land, Deutschland, lernen sollte.

Am nächsten Tag bin ich mit starken Kopfschmerzen aufgewacht. Ich schaute auf die Fotos von meinen Kindern und war voller Traurigkeit. Ich wohnte noch in einer Flüchtlingsunterkunft, und auf einmal klopfte es an meine Tür. „Wer ist da?“, fragte ich auf Persisch. – „Benim!“ („Ich bin’s!“), antwortete eine Stimme, die mir bekannt war, auf Türkisch. Es war die Frau, die ich am Tag zuvor vor der Ausländerbehörde getroffen hatte. Nun stand sie wieder vor mir, mit einem großen Topf voller leckerem, heißem Essen. Es war eine große Gnade.


Azar Azarshahi ist 2010 aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Mittlerweile spricht sie sehr gut Deutsch und ebenso gut Türkisch. Die türkische Sprache hat sie in Duisburg über befreundete Familien gelernt, bevor sie Gelegenheit fi nden konnte,
Deutsch zu lernen. Ihre Tochter kam 2014, ihr Ehemann und ihr Sohn kamen 2015 nach Deutschland.

Dieser Text erschien 2021 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“.

Azar Azarshahi 2020 in Bochum, Foto: Dorte Huneke-Nollmann

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