Mein Vater hat einen Traum
Wer in Syrien auf dem Dorf aufwächst, hat oft nicht die Chance zu studieren, schon gar nicht als Mädchen. Aber dann gibt es Eltern, die alles daür geben, dass sechs Töchter und ein Sohn studieren können.
Von Laila Ammi
Ich komme aus einer kurdischen Familie aus der Großstadt Aleppo in Syrien. Mein Vater hat sechs Kinder – fünf Töchter, einen Sohn. Ich bin die dritte in der Reihe seiner Töchter. Der große Traum meines Vaters heißt Bildung.
Anders als einige vielleicht denken, hat mein Vater diesen Traum für alle seine Kinder gleichermaßen, die Töchter und den Sohn. Alle seine sechs Kinder hat er deshalb in Aleppo auf eine Privatschule geschickt. Ein Vermögen muss er dafür bezahlt haben. Seine Kinder sollten eine gute Bildung erhalten. Und mindestens eines seiner Kinder sollte Medizin studieren.
Mein Vater kommt aus einfachen Verhältnissen. Er ist in einem Dorf aufgewachsen, konnte keine besondere Schule besuchen und ist nicht zur Universität gegangen. Aber er hat es geschafft, an einem Institut in Aleppo einen Abschluss als Elektrotechniker zu machen. Und später arbeitete er im Immobilienbereich. Auf diesem Feld war er offenbar sehr gut, denn wir besaßen in Syrien mehrere Häuser.
Als der Krieg ausbrach, beneideten wir jedoch die Familien, die ihr Vermögen nicht in Häusern, sondern in Gold angelegt hatten. Gold kann man tragen, tauschen, verkaufen. Die Häuser meiner Familie sind in Aleppo geblieben und wertlos geworden. Zusammen mit meinen beiden älteren Schwestern machte ich mich auf den Weg nach Europa. Auf unserem Weg verbrachten wir drei Jahre in der Türkei, bevor wir Deutschland erreichten. Ich war 17 Jahre alt. Viele Menschen, die wir trafen, lebten auf der Straße. Das wollten wir auf keinen Fall.
Deshalb suchten wir uns eine Wohnung. Um unsere Miete bezahlen zu können, halfen wir in Schmuckläden aus und arbeiteten in kleinen Cafés. Manchmal arbeitete ich 15 Stunden am Tag. Einkäufe und andere Dinge schrieb ich mit einem Stift auf einen Block und passte gut auf, damit ich keine Fehler machte – aber in Gedanken war ich weit fort. Ich stellte mir vor, dass ich meinen Stift in Zukunft viel lieber dafür verwenden wollte, um in Hefte zu schreiben, für die Schule zu lernen. Meine Eltern konnten uns aus Syrien kein Geld in die Türkei schicken, ihre Häuser waren ja wertlos geworden. Als wir in Deutschland waren, folgten sie uns nach.
Meine beiden älteren Schwestern studieren heute Informatik und Medizintechnik. Ihre Abiturzeugnisse konnten sie sich aus Syrien schicken lassen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis die Zeugnisse von den deutschen Behörden offiziell anerkannt wurden. Meine Schwestern besuchten in dieser Zeit Deutschkurse und bereiteten ihr Studium vor. Als es soweit war, konnten sie ihren Weg fortsetzen. Mein Vater ist sehr glücklich darüber, was meine Schwestern machen. Auch wenn sie nicht Medizin studieren. Er hat ja noch vier andere Kinder, die Medizin studieren können.
Ich habe den gleichen Traum, wie mein Vater. Ich möchte studieren und einen guten Beruf haben. Aber mein Kopf schmerzt. Ich bin ohne Schulabschluss aus Syrien weggegangen. Der Krieg hat nicht auf mich gewartet. In Bochum kämpfe ich mit allen meinen Kräften dafür, das Abitur zu schaffen. Ich habe Freunde, die mir helfen. Die deutsche Sprache fällt mir nicht leicht. Dazu kommt die englische Sprache, im nächsten Jahr lerne ich Spanisch. Ich bin 23 Jahre alt. Die anderen in meiner Klasse sind alle jünger. Die 23-Jährigen, die ich kenne, sind längst an der Uni. Sie studieren, heiraten, arbeiten. Mein Vater unterstützt mich, wo er kann. Ob ich das schaffe?
Dieser Text erschien 2019 in der 14. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“, Sonderausgabe FRAUEN.
Im Januar 2019 bestand Laila Ammi den Realschulabschluss mit Qualifikation. Ihr nächstes Ziel ist das Abitur, für das sie sich in drei Jahren anmelden kann.
2 Kommentare
Kommentieren →Oh Laila, du hast so toll geschrieben. Du hast schon sehr viel erreicht. Dir wünsche ich weiterhin viel Erfolg und dass all deine Wünsche in Erfüllung gehen, deiner Familie auch alle alles Liebe und Gute.
Liebe Leila, zu gegeben, immer als die Älteste in der Klasse ist nicht leicht.
Als Migrantin habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht und nach dem Studium bin ich – wie kann auch anders sein – fast immer die Älteste unter den Bewerbern, das hat meine Jobsuche erschwert.
Klingt so depremiered? Das ist vielleicht auch.
Während dieser Reise habe ich mich selber besser kennengelernt und Menschen getroffen, denen alles egal ist oder sich über ihre Vorurteile nachgedacht habe.
Ich habe mich sehr viel für das Thema engagiert und Freundschaft angeschlossen.
Der Weg geht weiter und ich wünsche dir, dass du bekommen kannst, was du willst! Liebe Grüsse, Frederika