Von Rawend Ali
Steh auf! Die kommen gleich an. Wir müssen auf die Straße gehen. Mit diesen Sätzen weckte mich mein Vater an einem Tag im Sommer 2014. Er wies mich an, ich solle überall leere Flaschen suchen und diese mit Wasser füllen. Die vollen Flaschen sollte ich zur Hauptstraße bringen, dort würden gleich Menschen ankommen, die sehr durstig seien.
Es waren jesidische Flüchtlinge aus der Stadt Shingal, die in meine Heimatstadt Derik kamen. Auf einer langen Route waren sie teils mit Autos und teils zu Fuß über bergiges Land fast 130 Kilometer unterwegs gewesen, um bis zu uns zu kommen. Auf der Flucht vor der Terror-Miliz IS.
Der IS hatte kurz zuvor Shingal eingenommen. Am ersten Tag kamen nur wenige Menschen bei uns an, aber an den folgenden Tagen wurden es mehr und mehr. Es wurden Zelte für die Flüchtlinge aufgebaut. Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen. Ich fragte, was passiert war und wie sie es schaffen konnten zu fliehen. Alle hatten ihre eigene Geschichte, ich habe in viele traurige Augen geschaut. In einem Zelt habe ich eine Frau kennengelernt, die es mit ihren sechs Kindern geschafft hatte, die sichere Zone zu erreichen. Diese Frau konnte in der Nacht nicht schlafen, da sie Angst um ihre Kinder hatte und immer fürchtete, unsere Stadt könnte unter die Kontrolle des IS fallen. Sie fragte uns sehr oft, ob wir in Sicherheit seien.
Vor dem Krankenhaus sind wir einer Familie aus Shingal begegnet. Sie konnten nicht weiter, weil zwei Frauen aus ihrer Familie Kinder bekommen hatten: Eine Frau gebar ihr Kind unterwegs in den Bergen, die andere Frau bei uns in der Stadt. Die Familie war so groß, dass sie nicht nur bei uns, sondern auch bei unseren Nachbarn unterkamen. Wir waren dankbar, dass wir das Vertrauen dieser Familie gewinnen konnten. Sie haben uns von Shingal erzählt, vom friedlichen Leben vor dem Fall der Stadt.
Eine Woche lang haben wir Jugendlichen zusammen mit den Erwachsenen Essen und Getränke von zu Hause eingepackt, um diese an die Flüchtlinge zu verteilen. Wir warteten an der Hauptstraße auf diejenigen, die noch unterwegs waren. Es wurden auch Busse zur Grenze geschickt und einige aus unserem Ort, die ein Auto hatten, fuhren zur Grenze, um von dort die besonders erschöpften Menschen einzusammeln.
In Deutschland habe ich viele Menschen aus Shingal kennengelernt, sie haben mir von dem Fall ihrer Stadt und von ihrer Flucht erzählt. Bei einer Lesung in Bochum konnte ich Texte vorlesen, die davon erzählen, was die Menschen während der Belagerung und auf ihrer Flucht erleben mussten. Es ist sehr wichtig, dass wir als Menschen, die in einem friedlichen Land leben, Solidarität zeigen. Ich bin sehr froh, dass ich die Chance bekommen habe, diesen Menschen eine Stimme zu geben.
Dieser Text erschien 2021 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“. Zeichnung: Talent Design
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Kommentieren →herzlichen Dank Rawend Ali, für Ihre Worte. Diese Worte sind sehr wichtig für unsere Gesellschaft.