Von Hiba Hasan
Für Dich will ich schreiben
Nicht als meine Mama
Sondern als meine Heldin
Für die reisende Frau
20 Jahre im Königreich Saudi-Arabien
Drei Jahre in Libyen, ein Jahr im Irak
Vier Jahre in Syrien
Für die arbeitende Frau
Arabisch-Lehrerin, Hausfrau und Mutter
Die Heldin, die meinen Geschwistern
Und mir ein gutes Leben geschenkt hat
Die so viel getan und bewirkt hat
Dass wir Kinder studieren konnten
Die ihrer Familie ein warmes Zuhause
gegeben hat.
Als diese Frau 62 Jahre alt war, wurde der Krieg in Syrien immer schlimmer und das Haus der Familie wurde sehr kalt, weil die Mauern von Projektilen durchbohrt worden waren. Sie gab ihr Bestes, um uns zu unterstützen. Ihre jüngsten drei Mädchen studierten Bauingenieurwesen, Ingenieurwesen im Landschaftsbau, Architektur im 6. und im 10. Semester.
Meine kluge Mutter gestaltete unser Leben, das jeden Tag schwieriger wurde. Auch als eine ihrer Töchter sich offen gegen das kriegführende Regime aussprach und von Sicherheitskräften festgenommen wurde.
2013 entschied meine Mutter, dass unser einziger Weg darin bestand, nach dem Studienabschluss der beiden Zwillingstöchter nach Europa zu fliehen. In der Heimat konnte sie ihre Kinder nicht länger schützen. Die jüngste Tochter sollte mit dem Vater
in Syrien bleiben, um ihr Studium dort zu beenden.
Die Reise ohne Wiederkehr traten wir 2015 an. Die 26 Buchstaben des deutschen Alphabets reichen nicht aus, um den Mut meiner Mutter zu beschreiben und den Respekt, den ich ihr mit diesem Text entgegen bringen möchte. Eine diabeteskranke Frau von über sechzig Jahren machte sich auf den Weg in eine unbekannte Welt, um ihre Töchter zu retten.
Zwischen hohen Bergen in der Türkei stürzten wir nach einer langen Wanderung und kamen nicht weiter. Meine Zwillingsschwester und ich konnten uns retten, meine Mutter schien festzustecken. Geht bitte weiter! Lasst mich hier! Ich kann nicht weiter!
Ich weiß nicht, wie oft sie uns gebeten hat, einfach weiterzugehen. Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir dort verbracht haben. Ich weiß nicht, ob meine Mutter nur deshalb die Kraft gefunden hat, aus der Notlage herauszukommen, weil sie sah, dass wir ohne sie nicht weitergehen würden. Ein Augenblick, in dem der Mut meine Mutter verlässt und wieder zu ihr zurückkehrt. Auf unserem Weg haben wir das mehrmals erlebt. Und dann erreichten wir Europa.
Das neue Leben wird nicht einfach werden, hat meine Mutter zu uns gesagt. Ein neuer Anfang, eine neue Sprache, ein neues Leben. Das wird viel Kraft kosten. Aber wir müssen das Licht auf dieser anderen Seite erreichen.
Dieser Text erschien 2021 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“