Denken Sie, dass Deutschland das bewältigt, Herr Norbert Lammert?
Im Gespräch mit NeuinDeutschland plädiert Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) für eine lebendige Demokratie und robuste Herzlichkeit.
NiD: Können Sie sich vorstellen, in einem anderen Land als Deutschland zu leben?
Norbert Lammert: Vorstellen kann ich mir das natürlich, aber ich möchte ungern gezwungen sein, in einem anderen Land zu leben.
NiD: Was denken Sie, wem in Deutschland leichter ein Aufstieg gelingt: einem deutschen Arbeiterkind oder einer geflüchteten Akademikerin?
Lammert: Wir werden für beides Beispiele finden. Aber ich vermute, dass die Zahl der erfolgreichen Aufsteiger aus schwierigen sozialen Verhältnissen in Deutschland höher ist, als die Zahl derer, die mit akademischer Qualifikation nach Deutschland fliehen und in eine adäquate Beschäftigung kommen.
NiD: Haben Frauen und Männer in Deutschland die gleichen Chancen?
Lammert: Nein. Es gibt Bereiche, in denen Frauen mehr Chancen haben und es gibt Bereiche, in denen Männer mehr Chancen haben. Im Öffentlichen Dienstrecht haben wir inzwischen festgelegt, dass bei gleicher Qualifikation Frauen bevorzugt einzustellen sind. Dass somit viele mindestens gleichqualifizierte Männer nicht zum Zuge kommen, gehört zur Beschreibung einer wiederum komplizierteren Lage.
NiD: Wird es neue Gesetze gegen Flüchtlinge geben? Wird das Aufenthaltsrecht weiter verschärft?
Lammert: Die Fälle sind stärker differenziert worden, in denen es befristete oder unbefristete Aufenthalte gibt, und für welchen Zeitraum. Es gibt Verpflichtungen – Völkerrechtsverträge wie die Genfer Flüchtlingskonvention -, die wir eingegangen sind, an die wir uns selbstverständlich halten. Wonach es übrigens befristete Aufenthaltstitel gibt, keine unbefristeten. Diese kann man großzügig handhaben, solange die Größenordnungen gut zu bewältigen sind. In dem Augenblick, wo sich aus der schieren Zahl größere Probleme ergeben, können wir sie weniger großzügig anwenden.
Richtig ist aber ohne Frage, dass wir die vorübergehend großzügige Regelung – dass wir beispielsweise Syrern ohne invidiuelle Fallprüfung unterstellten, einen Asylgrund zu haben – nicht durchhalten. Großzügigkeit ist keine rechtliche Verpflichtung.
NiD: Sie haben einmal gesagt: ‚Kritik muss sein.‘ Können wir uns als Geflüchtete leisten, in Deutschland Kritik zu üben?
Lammert: Ja, selbstverständlich. Wenn Flüchtlinge den Eindruck haben, dass sie in einer unzumutbaren oder unfairen Weise behandelt werden, haben sie natürlich das Recht, sich darüber zu beschweren. Umgekehrt muss es natürlich möglich sein, dass sich Einheimische über Flüchtlinge beschweren. Dabei empfiehlt es sich aber immer, den Maßstab im Auge zu behalten: sich selbst zu fragen, ob eine Beschwerde nicht nur zulässig, sondern auch wirklich notwendig ist.
NiD: Denken Sie, dass Deutschland die Sorgen der ‚besorgten Bürger‘ bewältigen kann?
Lammert: Das will ich jedenfalls hoffen! Wir haben in Deutschland auch deswegen ein ganz besonderes Problem mit kritischen Teilen der Öffentlichkeit, weil es in unserem Parlament besser gelingt als in irgendeinem anderen europäischen Parlament, bei schwierigen Themen in allen Gruppierungen einen Abwägungsprozess zu organisieren, der erstaunlicherweise am Ende zu ganz breiten Mehrheiten im Parlament führt. Das wiederum führt dazu, dass jene Teile der Öffentlichkeit, die mit den gefundenen Lösungen nicht zufrieden sind, sich im Parlament nicht mehr vertreten fühlen. Die sagen dann: Wir müssen uns andere suchen, die uns vertreten. Da liegt ein großes Kommunikationsproblem. Es fällt mir aber schwer, daraus die umgekehrte Empfehlung herzuleiten, dass wir uns um gemeinsame Lösungen gar nicht mehr bemühen sollten.
Das hat übrigens auch etwas mit einer Großen Koalition zu tun, die in einer lebendigen Demokratie nicht Normalzustand werden sollte.
NiD: Wir sind neu in Deutschland, neu im Ruhrgebiet. Was lieben Sie an Ihrem Ruhrgebiet?
Lammert: Damit könnten wir den Rest des Nachmittags verbringen! Ich empfinde die robuste Herzlichkeit in dieser Region als sehr angenehm. Das Ruhrgebiet ist übrigens durch Zuwanderung entstanden. Ohne die Massenzuwanderung in verschiedenen Wellen gäbe es das Ruhrgebiet gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie wir es heute erleben – als eine Riesenregion mit 5 Millionen EInwohnern. Wir haben mehr Opernhäuser und mehr Fußballclubs als Berlin, Hamburg oder München!
NiD: Sie haben gesagt: ‚Es ist nicht leicht die Welt zu verändern. Aber der Versuch lohnt, und manchmal ist er überfällig.‘Haben Sie es geschafft, die Welt ein Stück weit zu verändern?
Lammert: Nein. Die Welt habe ich sicher nicht verändert. Und ich glaube, niemand wird die Welt alleine verändern; schon gar nicht in einer zumutbaren Weise. Aber wenn keiner etwas tut, weil er weiß: alleine verändert man die Welt nicht, dann bleibt sie sicher so, wie sie ist. Jeder sollte den Versuch unternehmen, das kleine Stück, auf das er vielleicht Einfluss hat, auch wahrzunehmen.
NiD: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führten Omar N., Lamia Hassow, Issam Al Najm, Cihad Kino und Dorte Huneke-Nollmann.
Erschienen in der 5. Ausgabe der NiD-Zeitung (>>PDF)