Von Mohamad Arbash
Seit über sechs Monaten bin ich hier in Deutschland. Die Menschen sind nett und höflich, ich lerne die Sprache. Aber ich finde keine Ruhe. Nicht die Ruhe, die ich spüre, wenn ich bei meinen Eltern bin.
In den Ohren der Deutschen klingt das komisch. Denn ich bin ja schon erwachsen. Aber ich komme aus einer anderen Welt. Als ich meine Heimat verließ, war ich 26. Bis zu diesem Tag wohnte ich bei meinen Eltern und sah meine Mutter jeden Tag. In Syrien bleibt man bei seiner Familie, bis man heiratet. Und wenn man verheiratet ist, besucht man die Familie jede Woche. Ich finde das richtig. Meine Eltern haben mich jahrelang erzogen, wie könnte ich da eines Tages einfach gehen…?
Meine deutschen Freunde wundern sich
In dieser Welt, in dieser kleinen, besonderen Welt bin ich aufgewachsen und ich kann meine Eltern, meine Geschwister nicht vergessen. Ich kann den Kreis meiner Familie nicht vergessen. Jeden Tag, an dem ich in Deutschland aufstehe, sehe ich meine Mutter vor mir, die mir Guten Morgen sagt. Die große Welt um mich herum ist in Deutschland besser, friedlicher. Aber ich liebe das Leben in Deutschland nicht. Wie sollte ich, wenn meine kleine Welt so fern ist?
Meine deutschen Freunde wundern sich, wenn ich ihnen erzähle, dass ich in diesem friedlichen Land keine Ruhe finden kann. Ich vermisse meine Mutter, ihre sanften Hände, die Wärme ihrer Liebe zu uns. Wenn wir am Telefon sprechen, spüre ich diese Dinge nicht, die Traurigkeit erfüllt mich ganz, und Sorge.
Warum ich diesen Text schreibe? Weil ich von einem glücklichen Moment in Deutschland erzählen möchte, der nur auf diese Weise zu verstehen ist.
Ich habe eine freundliche und geduldige Deutsch-Lehrerin, ungefähr im Alter meiner Mutter. Manchmal läuft sie im Unterricht zwischen unseren Stühlen herum. Vor ein paar Wochen kam sie auf diesem Weg an meiner Kapuze vorbei, die irgendwie chaotisch auf meiner Schulter lag. Ich hatte eine Frage gestellt. Mit einer kurzen Geste rückte sie die Kapuze gerade, beantwortete meine Frage, und stützte sich auf meinen Schulter ab. Als würde sie mich daran erinnern, dass ich diese Kraft habe – eine andere Person zu stützen.
Es war überhaupt nichts Besonderes, viele machen das. Aber irgendetwas in dieser Geste erinnerte mich daran, wie meine Mutter mir morgens an der Tür, wenn ich auf dem Weg zur Schule oder zur Universität war, noch einmal die Jacke zurechtzupfte. Das war etwas Besonderes, eine besondere Erinnerung, die auf einmal sehr nah war.
Als ich meiner Lehrerin von diesem Text erzählte, lachte sie freundlich – und wir machten ein Foto von uns beiden, das nun in der Zeitung zu sehen ist.
Dieser Text von Mohamad Arbash erschien in der 5. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ (>>PDF, 1/2017)
2 Kommentare
Kommentieren →Wunderschön geschrieben! Ich besuche selbst gerade einen DaF/DaZ Lehrgang an der Universität Wien und würde diesen Text gerne als Unterrichtsgrundlage mitnehmen, ich hoffe, dies ist auch in Ihrem Interesse?
Liebe Frau El Sehity, sehr gerne, wir freuen uns, wenn unsere Texte ihre Wege gehen! Viele Grüße aus Bochum!