Du holdes Himmelsangesicht

Von Yassmin Murad

Im Deutsch-Leistungskurs eines Dortmunder Gymnasiums war Yassmin Murad (18) gerade damit beschäftigt, einen Dialog aus Goethes Faust zu analysieren, als die berühmte Gretchenfrage („Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“) auf ganz andere Weise in den Schulalltag platzte.

Der Freitagmorgen begann, wie gewohnt, mit einer Doppelstunde Deutsch LK (Leistungskurs); und der Unterricht fing, wie gewohnt, mit einem Ritual an, das sich unser Lehrer ausgedacht hat: einer Präsenzminute. Eine Minute lang sollen wir unsere Atemzüge zählen. Wahrscheinlich macht er das, um uns mental auf die Sprache von Goethes Faust vorzubereiten, die uns dann in den kommenden zwei Stunden quälen wird. Eine sehr alte Sprache, die für junge Menschen heute nicht mehr sehr gut zu verstehen und manchmal kaum zu übersetzen ist.

Überraschenderweise verstehe ich den Text von Goethe aber ziemlich gut, was ganz sicher daran liegt, dass ich seit meinem ersten Jahr in Deutschland so viele Bücher lese, wie noch nie in meinem Leben. Weil mir seit der siebten Klasse klar und deutlich gesagt wurde, dass ich auf meinem Weg zum Abitur an Faust nicht vorbei kommen würde und bei jedem Elternsprechtag haben meine Lehrer betont, wie großartig Faust sei und dass die Lektüre des Faust mir vor allem dabei helfen würde, mein Deutsch zu verbessern.

Heute lese ich also Faust in der Schule, aber ich wüsste nicht, wie Faust mir beim Verbessern meiner Deutschkenntnisse hätte helfen können. Hilfreich sind für meine Kurskamerad*innen und mich eher die Zusammenfassungen auf Wikipedia, damit wir unsere Hausaufgaben machen können.

Dennoch finde ich Faust sehr interessant! Ich verstehe zwar nicht alles, aber es klingt so philosophisch und tiefgründig, sodass es mich doch irgendwie anzieht und mich weiterhin Goethe bewundern lässt. Ich bewundere auch Faust – jedenfalls bis zu der Textstelle „Du holdes Himmelsangesicht….“. Das verstehe ich überhaupt nicht. Was mag das heißen?

Als ich gerade meine Lehrerin fragen möchte, was „holdes Himmelsangesicht“ heißt, klopft eine andere Lehrerin an unsere Klassentür, sie spricht kurz mit einem Jungen aus unserer Klasse und nimmt ihn dann mit raus. Etwas später überlege ich, ob der Junge wohl wusste, dass dieses Gespräch länger als zehn Minuten dauern und er die Bedeutung des holden Himmelsangesichts nicht erfahren würde. Ich denke, nein. Ganz sicher wusste er aber auch nicht, dass er unter Salafismusverdacht geraten war und sich offenbar unangemessen verhalten hatte. Auf so etwas kommt man ja erst einmal nicht.

Die Deutschstunde läuft weiter und wir pauken weiterhin Faust. Ich denke an das holde Himmelsangesicht, als gäbe es nichts Wichtigeres. Während ein Mitschüler von mir draußen auf dem Flur von mehreren Lehrern und einem hinzu gezogenen Experten zur Rede gestellt wird. Weil er Muslim ist und in der Schule gebetet hat. Dazu muss man wissen, dass unsere Schule bis vor kurzer Zeit einen Gebetsraum hatte. Seit es den Gebetsraum nicht mehr gibt, beten einige Schülerinnen und Schüler irgendwo, wo es gerade ein bisschen ruhig ist. Ich verstehe nicht, was daran schlimm ist.

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Goethe ist längst tot, aber seine Worte beschäftigen uns alle. Die poetischen Worte von Faust und Gretchen, die viele von uns gar nicht richtig verstehen, sind wichtiger, als das, was unser Mitschüler gerade draußen empfindet, fühlt, durchlebt.

Goethe hat gesagt: „Man kann nicht früh genug erfahren, wie entbehrlich man in der Welt ist“. Aber was heißt das für uns hier gerade? Was ist entbehrlich? Ist das Gebet entbehrlich?

In den Augen vieler Menschen ist das stille Gebet in einem unbeachteten Winkel während der Schul-Pause entbehrlich, oder vielmehr unangebracht. Während ich in diesen ungewissen Gedanken versinke, versuche ich weiter, die Bedeutung von „Du holdes Himmelsangesicht“ zu begreifen. (Die Google-Übersetzung hilft mir übrigens kein Stück weiter.)

Dinge werden entbehrlich, wenn sie den eigenen Normen und Idealvorstellungen nicht entsprechen, dabei werden andere Normen und Idealvorstellungen vernachlässigt. Faust hingegen wird niemals entbehrlich sein. Ganz egal, ob die Inhalte und Charaktere noch zeitgemäß sind. Es scheint so etwas wie eine allgemeine Vereinbarung darüber zu geben, was als entbehrlich gesehen wird, und was nicht.

Dieser Text erschien 2020 in der 18. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“.

1 Kommentar

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Gut dargestellt, Respekt!
Ich glaube in Deutschland ist das Thema Religion immer schwierig. Auch christlichen SchülerInnen, die in der Pause beten würden, würden solche Kommentare nicht erspart bleiben.
Ich springe auch zeitweise im Deutschunterricht an meiner Schule ein. Für mich ist Faust nicht unentbehrlich, wie du das Werk beschreibst. Es ist ein Werk von vielen, und jedes Werk bietet andere Chancen und Möglichkeiten, zu verstehen und nachzudenken.

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