Ein Blatt nach dem Frost
Von Rojin Namer, 16 Jahre
Körper: (schwitzt)
Hirn: Warum schwitzt Du ausgerechnet jetzt?
Herz: Ganz ruhig! Wir haben das schon oft gemacht. Hab keine Sorge.
Während der Lesung kommen Nervosität, Stress, Druck.
Etwas erstickt mich.
Die Menschen sitzen vor mir
Sie hören mir zu
Da ist die Angst
Mein Herz springt wie ein galoppierendes Pferd
Ich zittere am ganzen Körper
Ein einziges falsches Wort
Und Tränen würden meine Augen glänzen lassen
Lauernd klopfen sie an meine Lider, während ich erzähle
Von einer Kindheit, die mir genommen wurde
Von den Tagen im Gefängnis
Von den kalten Nächten auf der Straße
Von der Stadt, die sich von einem Paradies in ein Schlachtfeld verwandelt hat
Mein Verstand formt die Worte
Mit denen ich aus meinem Leben berichte
Mein Herz steht in Flammen.
Ich suche nach Auswegen
Vielleicht geht es mir besser, wenn ich davon erzähle
Aber was werden die Menschen sagen?
Wie werden sie reagieren?
Was werden sie in mir sehen?
Werden sie ein verlorenes Mädchen sehen?
Schon wieder so ein Mädchen auf der Suche nach Sicherheit
Auch Sicherheit vor sich selbst?
Die Fragen greifen jede Zelle meines Gehirns an
Während ich die Worte sage:
Jeder Mensch hat das Recht, in Freiheit zu leben.
Oder:
Ich war Kind an einem Ort
Wo es für mich viel einfacher gewesen wäre
Kind zu sein
Wenn du mir nicht die Freude genommen hättest
Dann schaue ich in die Gesichter der Menschen
Die meine Worte gehört haben
Fühle mich erleichtert, befreit, erlöst
Ich bin ein Blatt
das im Frühling auf dem Boden liegt
nach dem Frost
Die Menschen, deren Gesichter ich von der Bühne aus sehen kann
Sind ein Baum
Mit neu geborenen Blättern
Mit Ästen, die mir neuen Halt geben
Das Zuhören gibt mir Halt
Ich finde zu mir zurück
Dieser Text erschien 2019 in der nid-Sonderausgabe FRAUEN, in Zusammenarbeit mit dem Berliner Verein „The Poetry Project“.
Rojin Namer wurde 2002 in Kamischli in der kurdischen Region im Norden Syriens geboren. Aufgewachsen ist sie in der Hauptstadt Damaskus. 2015 floh sie gemeinsam mit ihrem Onkel aus Syrien Das Ziel war Europa. Nach 27 Tagen wurden beide in Griechenland verhaftet. Rojin verbrachte zehn Tage in einem Gefängnis und kam allein nach Deutschland. Damals war sie 13 Jahre alt. Seit Anfang 2018 schreibt sie Texte für den Verein „The Poetry Project“ und nutzt diesen Rahmen, um sich mit anderen Geflüchteten über persönliche Erlebnisse auszutauschen. Mit ihren Texten stand Rojin schon viele Male auf der Bühne. Aber jeder Auftritt, sagt sie, kostet neuen Mut – und spendet ihr neue Kraft.
Es ist schwer, eine Fluchtgeschichte hinter sich zu haben. Ich finde nur selten jemanden, der offen darüber redet. Auch ich kann meine Gefühle nicht aussprechen. Ich kann sie nur auf ein Blatt Papier bringen und dann vortragen. Früher habe ich meine Gedanken in einem dunklen Loch begraben. Zum Glück hatte ich immer Menschen in meiner Nähe, die mich herausgezogen haben aus diesem Loch, und auch „Poetry“ ist immer eine Hand gewesen, die mir aus dem Dunkeln herausgeholfen hat.
Rojin Namer
„The Poetry Project“ ist ein mehrsprachiges Dialogprojekt aus Berlin. Junge Geflüchtete aus dem persisch- und arabischsprachigen Raum begegnen Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, im lyrischen Gespräch und schreiben über das, was uns alle bewegt. Mehr Informationen und Hinweise zur Teilnahme unter: www.thepoetryproject.de