Eine Reise ins Ungewisse

Von Nema Albahri, 23 Jahre

Nema Albahri musste ihre Heimatstadt Damaskus 2014 verlassen. Als Teenager floh sie zusammen mit ihrer Familie nach Libyen und später über das Meer nach Europa. Dass sie lebend dort ankommen würde, war lange Zeit ungewiss.

Von Syrien aus waren wir mit verschiedenen Fahrzeugen nach Libyen gekommen und lebten dort mehrere Monate. Als mein Vater mir und meinen Geschwistern sagte, dass wir Libyen verlassen würden, und zwar über das Meer, spürte ich so starke Wellen durch meinen Körper gehen, als sei ich bereits auf hoher See. Dabei wusste ich damals noch gar nicht, wie klein unser Boot sein würde, und mit wie vielen anderen Menschen wir uns dieses Boot teilen würden. Von Libyen aus wollten wir nach Italien. „Wenn wir in Italien sind, wo genau wollen wir hin?“, fragte ich meinen Vater. Mein Vater sagte: „Wenn wir lebend in Italien ankommen, dann denke ich darüber nach. Allah erschafft, was wir nicht wissen.“

Es war eine Reise ins Ungewisse. Aber ich könnte auch sagen, eine Reise des Todes. Weil wir nicht wussten, was uns erwartete, ob wir lebend oder tot ankommen würden.

In meiner Erinnerung behalte ich die Nacht, in der wir Libyen verließen. Als der Mann kam, der uns auf unsere Reise schicken würde. Er fing eine große Summe Geld von uns ein. Um uns auf See zu werfen. Er war in Eile, aber sein Gewissen war unbeschwert.

Die Nacht war dunkel, als wir auf das Boot gehen sollten. Vor meinen Augen konnte ich nichts sehen. Wir hielten uns aneinander fest und ich hörte die Stimme meines Vaters. Angst hatte sich in seine Stimme gemischt. Jemand flüsterte: eine Lebensreise ins Unbekannte. Stunden später ging die Sonne auf. Und ich sah zum ersten Mal die vielen fremden Gesichter um mich herum. Ich war überrascht, unterschiedliche Hautfarben zu sehen. Und dass wir so viele waren. Würde das Boot uns alle tragen? Würde es standhaft bleiben? Wir werden ertrinken, dachte ich immer wieder. Die Panik traf uns. Aber wir blieben standhaft. Wir mussten unbedingt an der Stelle bleiben, wo wir waren. Wir durften unsere Füße nicht bewegen. Sonst würde das Boot kippen. Es waren so viele Menschen auf dem Boot. Wir konnten nur mit unseren Herzen und mit unseren Zungen für unser Überleben beten.

Drei Tage verbrachten wir auf dem kleinen Boot. Ohne Essen, ohne Trinken. Und ohne das Badezimmer zu betreten. Bis wir in einem Zustand waren, in dem wir über Essen und Trinken gar nicht mehr nachdenken konnten. Wir warteten nur auf ein Wunder Gottes. Ein Wunder würde unser Boot halten und die Menschen aus ihrer Panik erlösen. Warum bewegten wir uns nicht? Der Fahrer des Bootes sagte: Wir kommen nicht weiter. Wir bewegen uns nicht. Wir müssen darauf warten, dass ein Schiff kommt, das nach Italien fährt. Sie werden uns mitnehmen. Wenn kein Schiff kommt, müssen wir vom Boot springen. Oder das Boot wird sinken.

Alle Menschen auf dem Boot standen unter Schock. Das hatten wir nicht gewusst. Dann brach Panik aus. Das Boot wackelte stark. Wir mussten still bleiben. Sonst würde das Boot sinken. Eine weitere Nacht blieben wir auf dem Boot. Und weinten lautlos.

In dieser Nacht stand alles für uns auf dem Spiel. Ich packte meine Familie und küsste meinen Vater. Wir sammelten unsere schönsten Erinnerungen. Plötzlich sagte mein Vater: Ich entschuldige mich, dass ich uns hierher gebracht habe. Ganz in der Nähe meines Vaters zu sein und ihn trotzdem nicht sehen zu können – das war für mich sehr schwer. Ich habe einen starken Glauben an Gott, der unser Schicksal lenkt. Aber in diesem Moment war meine Angst größer als alles andere. Ich wollte weinen. Aber ich konnte nicht. Ich spürte mein Herz zerreißen. Es zerriss aber nicht an mir selbst, sondern an meiner Familie. An meinem Vater, meiner Mutter, meinem Bruder und meiner sechsjährigen Schwester. Was hatte meine Schwester in ihrem Leben erlebt? Sie hatte noch nicht genug gelebt.

Mein Kopf war voller Gedanken und Gefühle. Plötzlich war ein Schiff neben uns. Jemand schrie uns an und versuchte, uns zu helfen. Das Licht eines Telefons leuchtete und jemand winkte und schrie. Aber es vergingen weitere Stunden. Eine neue Enttäuschung. Ich fühlte eine große Müdigkeit und dachte: Das ist das Ende. Ich werde im Meer sterben. Das ist mein Schicksal.

Alle würden einschlafen und mein Inneres würde brennen. Ich wartete auf den Tod. Ich stellte mir den Moment des Ertrinkens vor. Meine Augen waren voller Tränen und konnten nicht schlafen.

Das Aufwachen. Ein Licht öffnete meine Augen. Das Licht eines Schiffes, ich konnte es nicht wirklich sehen. Ein Boot stirbt. Ich sah Menschen aus dem Boot herauskommen. Sie kämpften, um an Bord eines Schiffes zu kommen. War ich glücklich? Ich blieb, wo ich war. Ich konnte mich nicht bewegen. Das Schiff machte die Angst in meinem Herzen nur größer.

Wie sollte ich auf dieses riesige Schiff hinaufkommen? Ich war die letzte Person im Boot. Mein Vater kam, um mir an Bord zu helfen. Als ich oben war, sah ich: Alle Menschen feierten! Sie feierten ihr Überleben! Wir wussten immer noch nicht, wie unser Leben weitergehen würde. Aber das war nicht wichtig. Denn wir leben. Wir haben überlebt.

Dieser Text erschien 2019 in der 16. Ausgabe der Zeitung „nid – neu in deutschland“. Sonderausgabe Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene.

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