An einem Berufskolleg wird im Religionsunterricht über die „Flüchtlingskrise“ diskutiert. Es wird geschimpft und verleumdet. Nur zwei bleiben still. Auch das ist Alltag in Deutschland.
Anonym
Seit einigen Wochen besuche ich eine Berufsschule im Ruhrgebiet. Ich liebe das Ruhrgebiet, denn ich habe hier immer nur gute Erfahrungen gemacht. Aber kürzlich habe ich leider etwas anderes erlebt. In meiner Klasse hatte ich leider von Anfang an den Eindruck, von den anderen Schülerinnen und Schülern nicht mit offenen Herzen aufgenommen zu werden.
Sie reden nicht mit mir und scheinen Abstand zu mir zu halten. Außer mir gibt es noch einen weiteren Schüler in unserer Klasse, der neu in Deutschland ist. Ihm ergeht es genauso wie mir. In den
Pausen stehen wir allein und wenn wir im Unterricht eine Gruppenarbeit machen sollen, bleiben wir beide in aller Regel übrig. Ich habe mir vorgenommen, dies einfach zu akzeptieren und mich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Dann haben wir im Religionsunterricht über die „Flüchtlingskrise“ gesprochen. Hierzu hatten auf einmal alle etwas zu sagen, es wurden viele politische Fragen aufgeworfen. Es wurde lebhaft diskutiert und kommentiert. Dabei wurden Sätze gesagt, die in meinen Ohren sehr pauschal und polemisch klangen. Bei jedem dieser Sätze habe ich mir gewünscht, dass der Boden unter mir sich öffnet und ich darin versinken kann.
In den ersten Minuten des Unterrichts hatte ich noch gedacht, dass dieses Thema Anonym eine gute Gelegenheit für unsere Klasse sein könnte, um über unsere jeweiligen Erfahrungen zu sprechen, über Toleranz und Rassismus, oder über den Krieg und die globalen Zusammenhänge desselben. Aber das Gespräch in der Klasse verlief nicht zu meinen Gunsten.
Bis zum Ende der Stunde erlebten wir einen Austausch unter „den Einheimischen“ über uns Ausländer, und dabei blieb es. Nur zwei oder drei Schüler versuchten zwischendurch, den Konflikt zu mildern, indem sie zum Beispiel sagten, dass WIR nicht alles glauben sollten, was wir hören oder lesen. Und dass Menschen eben verschieden seien, unabhängig von ihrer Herkunft. Der Lehrer hielt sich im Gespräch sehr zurück. Die hässlichen Sätze blieben im Raum stehen.
Mein Kopf war voller Gedanken, voller vorformulierter Entgegnungen – und voller Wut. Einen kurzen Moment lang amüsierte es mich sogar fast, zu hören, wie dumm sie alle daherredeten. Wie kann man solche dummen Sachen so ganz allgemein über Menschen aus anderen Ländern glauben – und sagen? Die meisten in meiner Klasse sind 16 oder 17 Jahre alt.
Weil ich innerlich so hin und her schwankte, konnte ich aber nichts sagen. Mir war es lieber, die Gedanken und alle Wut zu vergraben, meinen Mund zu halten. Sie hätten nicht verstanden, was ich ihnen sagen wollte, egal welche Worte ich gewählt hätte. Ich glaube nicht, dass sie imstande sind, sich in meine Lage hineinzuversetzen.
Aber abgesehen von der fehlenden Toleranz, die ich dort erlebt habe, quält mich seitdem eine andere Frage. Vertraut uns die Gesellschaft, in die wir neu hineingekommen sind? Baut diese Gesellschaft auf uns, wenn wir darüber sprechen, was wir alle dazu beitragen können, unser Land in Zukunft gut und gerecht zu gestalten?
Dieser Text erschien 2019 in der 16. Ausgabe der Zeitung „nid – neu in deutschland“. Sonderausgabe Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene.