Mein Vater ist ein einfacher Mann

Mein Vater ist ein einfacher Mann

Eltern wünschen sich eine gute Zukunft für ihre Kinder. Aber was ist gut, und gilt das auch für andere Länder?

Von Amir Ahmed

Mein Vater ist ein einfacher Mann. Als wir klein waren, hat er meinen Brüdern und mir eine Sache immer wieder ans Herz gelegt: Bildung ist Licht, Unwissenheit ist Dunkelheit. Wir sollten immer nach dem Licht streben, also nach Bildung. Denn es könne jederzeit der Tag kommen, an dem wir uns mit unserer Bildung wie mit einer Waffe zur Wehr setzen müssten; ein gebildeter Mensch sei besser gerüstet.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass mein Vater Analphabet ist. Er kann weder lesen noch schreiben. Doch er besitzt eine tiefe Lebenserfahrung. Aus sechs Kindern hat er starke Erwachsene gemacht. Sein täglicher Rat – „Bildung ist Licht, Unwissenheit ist Dunkelheit“ – klingt auch in Deutschland jeden Tag in meinem Ohr. Denn es kann jederzeit der Tag kommen, an dem ich mich mit meiner Bildung wie mit einer Waffe zur Wehr setzen muss; ein gebildeter Mensch ist besser gerüstet.

Mein Vater hat diese Weisheit aus seinem Alltag gewonnen, aus seiner täglichen Arbeit. Als Elektriker hat er 30 Jahre lang bestimmt gute Arbeit geleistet. Aber weil er nicht lesen und schreiben konnte, hat er auch sehr gelitten und Ungerechtigkeit erfahren.

Dem Rat meines Vaters habe ich viele Jahre lang Recht gegeben. Ich habe mich angestrengt, um studieren zu können. Ich wurde Journalist.

Aber in meiner jetzigen Situation, als Flüchtling in Deutschland, gerät die Theorie meines Vaters ins Wanken. Mein Studium hilft mir in Deutschland nicht weiter, mit einem handwerklichen Beruf hätte ich es womöglich leichter.

Nach meiner Flucht aus Syrien habe ich in der Türkei als Elektriker gearbeitet, ähnlich wie mein Vater, nur dass ich diesen Beruf nie gelernt habe. Ich habe mir dabei die Finger verbrannt; ich verabscheue diese Arbeit. In Deutschland habe ich lange gehofft, dass ich einen Weg finde, wieder in meinem eigenen Beruf arbeiten zu können, als Journalist. Doch mit der Zeit verliere ich diese Hoffnung.

Heute höre ich mich zu meinen eigenen Kindern sagen: Bildung ist Licht, Unwissenheit ist Dunkelheit. Strebt immer nach dem Licht, also nach Bildung! Ich gebe die Worte meines Vaters weiter. Doch woher weiß ich, ob er Recht hat? Entschuldige, lieber Vater! Ich möchte Dich nicht enttäuschen. Aber in Deutschland hat mein Studium mir noch kein Glück gebracht.

Amir Ahmed, Foto: Sandra Schuck

Dieser Text erschien 2019 in der 15. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.

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