Von Lamia Hassow
In den sozialen Medien schreiben viele Menschen aus meiner Heimat häufig davon, dass Mädchen und Frauen in Europa rassistisch behandelt werden, weil sie ein Kopftuch tragen. Oder dass diese Frauen nicht die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Diese Berichte sind noch sehr viel mehr und lauter geworden, seit viele Menschen aus unseren Ländern in westlichen Ländern im Exil leben. Vor allem in den sozialen Medien ist viel davon zu lesen. Viele Menschen aus unseren Ländern sind wütend und schimpfen auf den Westen, dass es hier keine Meinungsfreiheit gebe und die Menschenrechte nicht eingehalten würden. Sie fühlen sich in ihrer Glaubensfreiheit eingeschränkt, lehnen kritische Äußerungen über den Islam ab und klagen über Rassismus.
In sehr weiten Teilen habe ich Verständnis für diese Menschen. Es ist immer schlimm, Diskriminierung zu erleben und ich sehe auch, dass das Kopftuch dabei eine Rolle spielt. Aber wie laut dürfen wir schimpfen, wenn in unseren eigenen Gesellschaften das Kopftuch ebenfalls eine solche Rolle spielt, nur umgekehrt?
Wenn wir dafür kämpfen, dass Frauen das Recht haben, auch in westlichen Gesellschaften ein Kopftuch zu tragen, ohne diskriminiert zu werden, dann sollten wir umgekehrt auch dafür kämpfen, dass Frauen in konservativen islamischen Gesellschaften das Recht haben, kein Kopftuch zu tragen, ohne deshalb diskriminiert zu werden.
Eine Frau darf nicht mit vernichtenden Worten beschimpft werden, die ich hier nicht wiederholen möchte. Wenn wir die Menschenrechte wirklich ernst nehmen. Ich spreche aus eigener Erfahrung, denn ich bin eine Frau, ich trage kein Kopftuch und ich komme aus einer Region, in der dies eine Rolle spielt. Ich selbst habe diese Gewalt nur in Worten erfahren.
Auch Worte schneiden und verletzen, aber sie bringen mich nicht um. Es gibt aber Themen, die so stark (oder so schwach) sind, dass Menschen sogar getötet werden, wenn sie abweichende Meinungen dazu äußern. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich wünschte, Europa sei gegenüber den Andersdenkenden weniger tolerant, jedenfalls gegenüber den radikal Andersdenkenden. Denn was ich in meiner Heimat an Intoleranz erfahren habe, möchte ich gar nicht tolerieren. Aber noch schöner wäre es natürlich, alle Menschen würden einfach lernen, die anderen in Ruhe zu lassen, denn das ist doch die europäische Idee, die uns hier Zuflucht gegeben hat, oder?
Dieser Text erschien 2021 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“.