Von Azeddin Darmach
Abdullah war ein junger Schüler in Katar. Er besuchte eine englischsprachige Schule, um die englische Sprache zu erlernen. Darauf legte seine Familie besonderen Wert. Seine Mutter war selbst Lehrerin, aber im Englischen konnte sie ihm nicht helfen. Ich war damals als Englischlehrer
in Katar und wurde gebeten, Abdullah Nachhilfeunterricht zu geben.
Ich hatte Freude daran, mit ihm zu arbeiten, weil der Junge intelligent und fröhlich war. Er erzählte mir viele Geschichten aus seinem Alltag und aus seiner Schule – alles in fließendem Englisch, denn deshalb saßen wir ja zusammen. Und einmal stand in unserem Buch die Frage: „Wie alt ist deine Mutter?“ Der Junge sprang auf, um seine Mutter, die in einem anderen Zimmer war, zu fragen.
Das Gesicht seiner Mutter habe ich übrigens während der zwei Jahre, die ich ihrem Sohn Nachhilfeunterricht gab, nie gesehen. Für eine katarische Frau ist es nämlich tabu, sich außerhalb der Familie ohne Kopftuch und Gesichtsschleier zu zeigen.
Jedenfalls sprang die Mutter, als sie die Frage von ihrem Sohn gehört hatte, schnell auf, kam zu mir und sagte: „Bitte, Lehrer, fragen Sie doch nie eine Frau nach ihrem Alter, oder einen Mann nach seinem Geld.“ Und zu ihrem Sohn sagte sie hinter der Tür: „Ich bin zwanzig Jahre alt – und kümmere Dich in Zukunft um Deine eigenen Sachen.“ Als der Junge zu mir zurückkam, schaute er halb amüsiert – und halb verunsichert darüber, was er mir nun sagen sollte.
In den arabischen Ländern gibt es zahlreiche Tabus, wie in jedem anderen Land.
Ich erzähle diese Geschichte, um nur einige Tabus der Golfstaatengesellschaften aufzuzeigen. Aber was ist überhaupt ein Tabu? Es ist etwas, worüber zu sprechen nicht akzeptabel ist oder ein Handeln, das inakzeptabel ist. In den arabischen Ländern gibt es zahlreiche Tabus, wie in jedem anderen Land. Man spricht zum Beispiel nicht öffentlich über Sex, man spricht nicht über Sex außerhalb der Ehe, Homosexualität, häusliche Gewalt, Abtreibung – vor allem aus persönlicher Scham oder um Skandale und Erniedrigungen zu vermeiden. Das Diskutieren religiöser Texte oder Symbole in der Öffentlichkeit ist verboten. Es gilt als Gotteslästerung oder Blasphemie. Man trinkt in der Öffentlichkeit keinen Alkohol und man konsumiert auch keine anderen Drogen. Man fragt andere nicht nach ihrem Vermögen – und man hält aus
unterschiedlichen Gründen keine Hunde bei sich in der Wohnung.
Über zwei der stärksten Tabus in den arabischen Ländern möchte ich im Folgenden ausführlicher schreiben.
1. Das Melden sexueller Übergriffe
Hamad* war ein bärtiger Mann in den Dreißigern. Er forderte eines Morgens sein asiatisches Dienstmädchen auf, ihn zu seinem Hof zu begleiten. Dort vergewaltigte er sie so rücksichtslos wie ein Biest. Sie war so verletzt, dass es unmöglich war, den Angriff nicht zu melden. Er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt – und sie wurde in ihr Heimatland ausgewiesen.
Die Vergewaltigung von Hausmädchen ist fast eine eigene, heimliche und böse Kultur in den Golfstaaten. Es geschieht in vielen Häusern. Aber wie viele Frauen melden solche Angriffe? Laut einer Statistik aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) tun dies nur 10 Prozent.** Und ich bin überzeugt, dass die Prozentzahl noch geringer ist, die Zahl der Straftaten noch deutlich höher. Warum? Aus Scham und vielen anderen Gründen wird geschwiegen. Aus Angst vor öffentlicher Erniedrigung und einem Skandal. Es ist einfach ein sehr großes Tabu.
Wir können uns das Ausmaß, die Notlage der Dienstmädchen in den Golfstaaten und Saudi-Arabien vorstellen, wenn wir wissen, dass mehr als zwei Millionen Dienstmädchen in diesen Ländern Hausarbeit leisten.*** Fast alle diese Dienstmädchen sind anfällig für sexuelle Übergriffe – und sie unterliegen dem starken Tabu, diese Verbrechen öffentlich zu melden. Natürlich gibt es auch viele ehrenwerte Bürger in diesen Ländern, die die Rechte von Ausländerinnen und Ausländern respektieren. Man darf nicht pauschalisieren. Aber die Zahl der Verbrechen ist so hoch, dass man sie auch nicht verschweigen soll.
2. Die Sache mit dem Geld
Über Geld spricht man nicht – so ist es in Deutschland, und so ist es auch in unseren Ländern. Es ist einfach ein Tabu, jemanden nach seinem Vermögen zu fragen. Vielleicht liegt der Grund dafür in einer vergangenen Zeit, in der es noch keine Banken gab: Man hielt sein Vermögen geheim, um es vor Räubern zu schützen. Und diese Tradition setzt sich bis heute fort. Oder es geht darum, Rivalitäten und Neid zu vermeiden. Sind die Tabus, die tief in unseren Gesellschaften verankert sind, nun positive Werte oder negative Werte? In meinem Text habe ich Tabus genannt, die negative Auswirkungen haben. Doch es gibt sicher auch positive Wirkungen eines Tabus. In Deutschland ist es tabu, die Verbrechen der Nationalsozialisten in Frage zu stellen – um nachfolgenden Generationen deutlich zu machen, dass es Verbrechen waren. Man muss wohl jedes Tabuthema für sich betrachten, immer wieder, um festzustellen, ob es positiv oder negativ für uns ist, ober ob es in einer Grauzone liegt.
*Name wurde geändert.
**Quelle: DohaNews
***Quelle: Migrant Rights Org., Helperchoice, New York Times
Dieser Text erschien in der 10. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ (2/2018)