Von Khaled Al Rifai
Als ich ein Teenager war, also etwa im Altern von 12 bis 17 Jahren, waren Liebe und Sexualität für mich ein Tabu. Das heißt, die Gesellschaft und meine Familie machten beides zu einem Tabu für mich. Ich habe lange nichts darüber erfahren, bis es das Internet gab. Über das Internet erfuhr ich viel über die Liebe, über Emotionen und gesunde sexuelle Verhaltensweisen.
In den allermeisten Fällen finde ich Tabus nicht gut. Für mein eigenes Leben kann ich sagen, dass es mir nicht gut getan hat, dass über manche Dinge einfach überhaupt nicht gesprochen wurde und jede Frage ins Leere lief. In der Schule wurden wir nicht aufgeklärt und lernten nichts über die Geschlechtsorgane. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass wir in Biologie eine Lehrerin hatten und unsere Klasse nur aus Jungen bestand.
In den Büchern kam das Thema vor, aber es wurde nur über die Anatomie gesprochen. Ganz sicher gibt es Tabus, mit denen Menschen und ihre Gefühle geschützt werden. Aber es gibt auch Tabus, die in meinen Augen Menschenrechtsverletzungen sind und wodurch Minderheiten
diskriminiert werden. Zum Beispiel ist in meiner Heimat jede Kritik an der Religion verboten. Bis ich 22 Jahre alt war – diese Zeit verbrachte ich in Syrien und in Libyen – habe ich es zudem kein einziges Mal erlebt, dass einer antisemitischen Äußerung widersprochen wurde. Ich glaube nicht, dass alle Menschen wirklich antisemitisch denken, aber man kritisiert diese Äußerungen nicht. Das würde ein bestehendes Tabu verletzen, mit schwerwiegenden Folgen. In Deutschland ist es genau andersherum.
In den arabischen Ländern gibt es drei Tabus: Religion, Sexualität und Politik. Über diese Bereiche soll nicht gesprochen werden,jedenfalls nicht kritisch oder aufklärerisch. Die Herrschenden achten besonders auf die Einhaltung der Tabus Religion und Politik, damit keine Gegenmächte entstehen. Von staatlicher Seite werden schwere Verletzungen eines Tabus mit Verhaftungen bestraft. Aber auch in der Gesellschaft wird darauf geachtet, dass bestimmte Traditionen und Tabus eingehalten werden. Dazu gehören die Sexualität, das Trinken von
Alkohol, Glücksspiele. Die meisten Menschen haben eine große Hemmung, diese Themen anzusprechen. „Alkoholtrinker“ ist ein geläufiges, übles Schimpfwort, ebenso „Lottospieler“.
Über die Sexualität darf man nicht sprechen, man lernt nichts darüber in der Schule und man soll keine Fragen stellen. Besonders stark ist dieses Tabu zwischen Männern und Frauen, aber auch in den Familien. Dabei spielt nicht nur die Scham eine Rolle. Es gehört sich auch nicht, über diese Dinge zu sprechen. Ausgelebte Sexualität außerhalb der Ehe ist haram (verboten) und deshalb tabu. Wobei man als Mann keine schweren Folgen fürchten muss. Man kann die Frau, mit der man Sex hatte, heiraten, dann ist alles gut. Für die Frau ist es jedoch schlimm, wenn bekannt wird, dass sie außerhalb der Ehe Sex hatte. In vielen Familien wird das als Schande betrachtet.
Dieser Text erschien in der 10. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ (2/2018).