Die Erde klagt uns an

Das Coronavirus entschleunigt unsere Welt – und auf einmal ist auch die Luft sauberer. Die junge Wittener Berufsschülerin Albatoul Sheikh Bakeer sieht in dem Virus auch die Chance, das Zusammenleben der Menschen in Zukunft friedlicher und gesünder zu gestalten.

Von Albatoul Sheikh Bakeer

Tragödien hat die Menschheit schon immer erlebt, davon habe ich viel gehört und gelesen. Plötzlich finde ich mich aber selbst in einer apokalyptischen Lage wieder, die mir wie ein Film erscheint. Es herrscht Krieg, aber dieses Mal gegen einen unsichtbaren Feind und die einzige Verteidigung, die wir haben, ist die Wissenschaft. Vom Fortschritt der medizinischen und anderen Wissenschaften sind wir, wie die Menschen zu allen Zeiten, abhängig.

Trotzdem sehen manche den wichtigsten Wettlauf anderswo: in einer fortschreitenden Aufrüstung, einem Wettlauf zwischen den Nationen, in der Herstellung aller Arten und Mechanismen zur Massenvernichtung. Die Frage aber ist: Was können diese zerstörerischen Mittel gegen ein Virus ausrichten, das nicht gesehen werden kann?

Die Erde klagt uns an. Der Oberste Umweltliche Gerichtshof fällt sein Urteil. Mit trauriger Stimme und tränenden Augen voller Unschuld und Enttäuschung meldet die Erde sich während des Prozesses zu Wort: „Hohes Gericht, die Menschen tun mir Unrecht an.“ –
„Wie lautet Ihre Anklage?“ –
„Kriege zerstören meine Böden und machen meine Felder unfruchtbar, meine Pflanzen werden geschwächt und sterben ab, Lebensmittel werden vernichtet und machen nicht mehr alle satt, Armut und Krankheiten breiten sich aus, und Unwissenheit. Mit chemischen Waffen werden meine Böden attackiert und verseucht, Raketen verschmutzen meine Luft. Zuletzt habe ich über meine Wälder in Australien geweint, die verbrannten. Ich weinte um das Mittelmeer, das rund um Frankreich, Spanien, Italien, die Türkei und Ägypten zu einer Sammelstelle für Plastikmüll geworden ist. Ich weinte um Griechenland, dessen Strände zu 80% mit Plastikmüll verschmutzt sind. Ich weinte brennende Tränen. Ebenso wie die Pflanzen kommen auch meine Tiere zu Schaden­­, und meine Luft, die Atmosphäre. So bin ich krank geworden und trage meine Klage zu Ihnen, lege mein Schicksal in Ihre Hände.“

Der Richter des Hohen Gerichts wandte sich mit traurigem Blick an seinen Assistenten: „Was haben Sie über die Menschen auf der Erde zu berichten, lassen Sie mich Ihre Erkenntnisse hören!“

Der Assistent begann: „Euer Ehren, viele Menschen haben kriminelle Züge angenommen, sie lügen, betrügen und verbreiten Gerüchte. Sie begegnen einander mit Hass und töten sich gegenseitig in Kriegen, denen auch viele Kinder zum Opfer fallen. Ihre Herzen wurden von einer Dunkelheit besetzt. Sie denken nur an sich selbst und ihren eigenen Nutzen, auch wenn sie mit ihrem Verhalten anderen schaden. Sie betrügen, als folgten sie damit einem inneren Bedürfnis, und sind unehrlich untereinander. In ihren Gesichtern ist der Betrug zu lesen. Nur noch sehr wenige Menschen leben mit einem reinen Herzen. Die große Mehrheit tut sich ihr Unrecht jedoch selbst an, Euer Ehren. So wird jede Strafe, die Ihr wählt, eine gerechte sein.“

Daraufhin verzichtete der Richter auf ein Urteil, denn die Strafe trat eines Tages in Form eines Virus‘ von selbst ein und legte das Leben der Menschheit lahm. Fabriken hörten auf zu arbeiten, Flugzeuge verschwanden vom Himmel, über die Meere fuhren kaum noch Schiffe. Die Menschen hörten auf zu reisen und blieben bei ihren Familien, sorgten sich um ihre Liebsten und entfernten den Hass aus ihren Herzen.

Es war eine gute Zeit, um die Menschen zum Nachdenken darüber zu bringen, was sie ihrem Planeten angetan hatten. Eine gute Zeit, um die Wissenschaft für ein friedlicheres Zusammenleben zu nutzen, nicht für Zerstörung und Hass. Gegen das Virus sind alle Raketen und Waffen nutzlos. Die Erde hat gesprochen, sie hat die Wahrheit zutage gebracht und wird die Menschen an ihrem Verhalten messen.

Albatoul Sheikh Bakeer (20) lebt in Witten. Sie kam 2014 mit UNICEF aus Syrien nach Deutschland und besucht derzeit ein Berufskolleg, um den Realschulabschluss zu machen.

8 Kommentare

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Ich habe deinen Text in der Metropole Ruhr gelesen.
Respekt, seit 2014 in Deutschland, und dann so einen großartigen Text verfassen-
Lasse ihn über Facebook um die Erde reisen- er ist super geschrieben !!
Hoffentlich werden auch alle Menschen mit Dunkelheit im Herzen angeklagt 👍

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