Fahren Frauen in Syrien Fahrrad?

Von Nahed Al Essa
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Als es 2016 in Damaskus auf einmal kein Benzin mehr zu kaufen gab, trafen die Menschen in meiner Stadt eine Entscheidung: Sie sagten „Nein“ zur Krise, mitten im Krieg, und fuhren mit Fahrrädern zur Arbeit, zur Uni, zu Freunden. Das Leben sollte weitergehen. Die Straßen von Damaskus waren auf einmal voller Fahrräder.
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Frauen und Männer, die ihre Räder vorher nur sehr selten rausgeholt hatten, nutzten sie nun als Verkehrsmittel, und wer keins hatte, besorgte sich eins. Es war außerdem einfacher, mit dem Fahrrad durch die Kontrollpunkte zu kommen, als mit dem Auto. Das alles passierte, als ich schon in Deutschland war, ich hörte nur von meinen Freunden davon und sah Fotos. Meine Erinnerungen an Damaskus sind ganz andere.
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Wer zu meiner Zeit mit dem Fahrrad durch Damaskus fuhr, war entweder extrem sportlich, oder arm. Alle meine Freunde in Damaskus konnten aber Fahrrad fahren. Manchmal fuhren wir am Wochenende ans Meer, dort haben wir immer Fahrräder gemietet. Damaskus ist eine große Stadt mit vielen Autos. Fahrradwege gab es nicht und in den engen, vollen Gassen der Altstadt war es schon als Fußgängerin schwer durchzukommen. Vor allem aber fanden wir es deutlich komfortabler und schicker, mit dem Auto zu fahren. Je größer und teurer das Auto, desto besser!
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Wegen eines Autos hätte ich sogar beinahe meine eigene Hochzeit platzen lassen! Für die Fahrt vom Friseur zur Hochzeitsfeier hatte ich mir einen Infiniti ausgesucht. Doch ich wurde von einem anderen Auto abgeholt – und war empört. Meine Mutter sagte zu mir: „Hab einen großen Kopf! Du bist kein kleines Mädchen mehr.“ So ging ich zu meiner Hochzeit. (Vielleicht hätte ich mit einem Fahrrad dorthin fahren sollen… vielleicht hätte ich dann mehr Glück gehabt.)
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Jeden Tag fuhren wir Fahrrad und spielten Fußball.
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Das Fahrradfahren lernte ich während eines Sommerurlaubs in der kleineren Stadt Daraa. Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein und verbrachte jeden Tag mit meinen Cousins und Cousinen draußen. Es gab breite Straßen, wenige Autos. Jeden Tag fuhren wir Fahrrad und spielten Fußball.
In Deutschland lebte ich zuerst in der kleinen Stadt Parchim in Mecklenburg-Vorpommern. Von der Unterkunft aus fuhren wir in einer kleinen Gruppe jeden Morgen 20 Minuten mit dem Fahrrad zu unserem Deutschkurs, und 20 Minuten wieder zurück. Einmal stürzte ich dabei und verlor ein kleines Stück eines Zahns. Trotzdem fuhr ich weiter zu meinem Deutschkurs. „An deiner Stelle wäre ich gleich zurück nach Hause gefahren, zurück nach Damaskus!“, sagte mein Bruder später am Telefon zu mir. Doch meine Zielstrebigkeit hinderte mich daran, meine treue Begleiterin, die mich leben lässt.
In Bochum haben wir nun drei Fahrräder: für meine beiden Kinder (7 und 9 Jahre) und mich. Leider wohnen wir an einem Berg und nutzen auch hier die Räder eher am Wochenende für Ausflüge. Aber der Moment, als ich sie beide allein losfahren sah, ohne meine Hand in ihrem Rücken (ach, ich hatte solche Rückenschmerzen vom Festhalten!), wie stolz sie gestrahlt haben, das war einer der schönsten Momente in meinem Leben.
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Dieser Text erschien Ende November 2017 in der nid-Sonderausgabe Frauen (nid#8).

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