Ich habe Deine Tasche aufgehoben
Auf der Straße begegnen Thamer Khale, der seit 2016 in Dortmund lebt, immer wieder Menschen, die ihn in irgendeiner Weise beeindrucken. Einige dieser Begegnungen beschreibt er in einer Reihe von Texten unter dem Titel „Auf der Straße“.
Teil 1, Dortmund-Eving
Von Thamer Khale
Neulich, auf dem Weg zur Schule, habe ich eine Erfahrung gemacht, die mir seither zu denken gibt. Wenn ich zur Schule fahre, nehme ich einen Bus, dann eine Bahn und steige am Ende noch einmal in einen Bus um. Weil ich fast alles dafür tun würde, damit mein Zertifikat als Krankenpfleger aus dem Irak hier anerkannt wird; deshalb gehe ich derzeit zur Schule und arbeite in der ambulanten Pflege. Ganz ähnlich wie ich das auch schon im Irak zwei Jahre lang getan habe.
Kurz bevor wir die Station Dortmund Zeche Minister Stein erreichten, an der ich aussteigen wollte, stellte ich mich in die Nähe der Tür. Eine junge Frau, sagen wir: eine europäische junge Frau, die vor mir stand, trug einen großen Rucksack, eine kleine Sporttasche und aus ihren riesigen Kopfhörern kam so laute Musik, dass ich jeden Ton mithören konnte. Sie hatte es eilig: Sobald sie einen Fuß aus dem Bus heraus auf den Boden gesetzt hatte, rannte sie los. Dabei verlor sie ihre Sporttasche, aber sie rannte weiter. Offenbar hatte sie es nicht bemerkt. Da ich direkt hinter ihr gestanden hatte, nahm ich die Tasche auf und rief mit lauter Stimme: „Hallo…! Entschuldigen Sie…!“ Sie reagierte nicht, wahrscheinlich weil die Musik in ihren Ohren so laut war. Deswegen rannte ich hinter ihr her.
Als ich sie eingeholt hatte, tippte ich ihr auf die Schulter, damit sie anhalten würde. Tatsächlich drehte sie sich um, aber bevor ich etwas sagen konnte, schimpfte sie: „Lass mich in Ruhe! Ich will nichts mit Ausländern zu tun haben und ich habe keine Zeit für Beziehungen oder sowas und um Dich zu verwöhnen!“ Sie sagte noch „Scheiß-Ausländer“. Dann war sie fertig.
Ich war schockiert. Aber was mich noch trauriger machte, war, dass die Leute, die um uns herum standen, mich plötzlich anschauten wie einen Verbrecher. Obwohl ich nur dastand. Auch nach einem kurzen Nachdenken antwortete ich ihr nicht. Weil ich so erzogen wurde, jede Frau so zu respektieren, wie ich meine Mutter respektiere. (Sonst hätte ich gerne auch sie beschimpft, das gebe ich zu.)
Also hob ich die Tasche vor die Augen der Frau und sagte: „Ich habe Deine Tasche aufgehoben.“ (Ein Scheiß-Ausländer hat Deine Tasche gesehen und will sie Dir geben.) Irgendwie kam dann ein Lächeln auf mein Gesicht und ich fügte hinzu: „Toll, wie schnell Sie Menschen nach ihrem Erscheinungsbild beurteilen können.“ Ich hörte noch ihre Entschuldigungen, während ich mich umdrehte und weiter meinen Weg zur Schule ging. Natürlich war ich froh über die Entschuldigung. Aber muss ich Verständnis für diese Frau haben? Bringt ihre Entschuldigung etwas? Ich denke, nicht. Aber vielleicht hilft es uns allen dabei, die Menschen, denen wir begegnen, nicht allzu schnell zu beurteilen.
Dieser Text wurde im Januar 2019 für die Online-Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ verfasst.
3 Kommentare
Kommentieren →Ich habe Thamer in meinem Kurs als Schüler gehabt und ich bin sehr stolz darauf. Er ist wirklich das beste Beispiel eines motivierten, engagierten und respektvollen Ausländers, er ist sehr ehrgeizig und talentiert. Ich bin sicher er wird alles schaffen, was er sich vornimmt.
Es ist traurig, dass immer noch so viele vorurteile gegenüber Menschen die als Fremde nach Deutschland gekommen sind existieren. Ich bin mir sicher dass es einen alltäglichen Rassismus gibt.
Ich kann mich dem Kommentar von Angeliki nur anschließen! Ich hatte das ausgesprochene Glück, THAMER seine ersten deutschen Worte zu lehren. Jetzt quält er sich mit dem lateinischen und griechischen medizinischen Fachbegriffe herum! Immer wieder stelle ich mir vor, wie es wäre wenn ich die Anerkennungsprüfung auf arabisch ablegen müsste!!!
Hut ab vor Thamer und allen seinen Kollegen und Kolleginnen.