Auf der Flucht erleidet jeder Mensch Verletzungen, auch wenn sie körperlich nicht sichtbar werden,
berichtet Rashed Alalej (21).
Kein Held ist hier, außer dem Tod. Die Menschen erzählen von nichts anderem. Vor meinem Entschluss, aus meinem Land zu fliehen, habe ich mir viele Gedanken gemacht. Die Ungewissheit machte mir große Angst. Aber über die Gefahren des Weges habe ich mir keine Gedanken gemacht.
Als ich losging, war ich allein – mit Menschen, die ich nicht kannte. Ich versuchte, zu den Kontrollposten des Regimes zu kommen. Sie waren streng bewacht und die Wachen forderten Geld von uns, bevor sie uns durchgehen ließen. Wir hörten Beschimpfungen und es soll auch gefoltert worden sein. Als Student war ich damals von der Armee freigestellt, sonst hätten sie mich dort sofort gefangen genommen.
Sie ließen mich gehen, ohne mir etwas zu tun, nahmen mir nur mein Geld weg. Ich kehrte um und beschloss, den illegalen Weg zu nehmen, durch die Wüste. Die Wüste ist eine machtfreie, aber sehr gefährliche Zone; sie liegt genau zwischen dem Gebiet des IS und dem der Regierung. Mitten in der Nacht fuhren wir mit einem Auto los: der Fahrer, ein junger Mann, zwei Frauen, sieben Kinder und ich. Es war dunkel. Der Fahrer wusste nicht, wo rechts und wo links war. Wir durften kein Licht machen, denn über uns flogen Militärflugzeuge. Sie hätten uns womöglich abgeschossen. Wir wären zerfallen.
Als die anderen schon schliefen, war ich noch wach
Wir waren gezwungen, in der Wüste zu schlafen, bis zum Sonnenaufgang. Damit wir den richtigen Weg finden würden. Der Fahrer, der junge Mann und ich nutzten den Boden als Bett. Die Frauen und die Kinder schliefen im Fahrzeug. Es war kalt. Als die anderen schon schliefen, war ich noch wach. Ich hatte große Angst, hielt nach Schlangen und Skorpionen Ausschau. Als die Sonne aufging, weckte ich die anderen. Wir fuhren weiter, bis wir in ein von Rebellen kontrolliertes Gebiet kamen und blieben dort eine Woche.
Ich wollte weiter in die Türkei. Meine ersten beiden Versuche scheiterten. Wir wurden nicht durchgelassen. Ich versuchte es noch ein drittes Mal – mit einem Fahrer, der Waren in die Türkei lieferte. Bei ihm konnte ich mich vorne in der Kabine verstecken. Wir erreichten einen Grenzposten der Freien Syrischen Armee und mussten warten, bis wir an der Reihe waren, durchsucht zu werden.
Dann gab es einen Knall. Ein Selbstmordattentäter hatte sich in die Luft gesprengt. Alle stürmten aus ihren Autos, die Hände schützend über ihren Köpfen. Einige Sekunden lang herrschte ein Krieg in Gedanken, unsere Nerven brannten. Drei unterschiedliche Gruppen begannen mit Fäusten eine Auseinandersetzung. Ich wollte dort nicht sein, ich wollte weg. Durch die Zäune konnten wir auf die andere Seite gelangen. Dort behandelten sie uns gut, sie ließen uns weiterfahren.
Am nächsten Tag erreichten wir die syrisch-türkische Grenze, stiegen in kleinen Gruppen einen Berg hoch, hörten die Schreie der türkischen Polizei, die das Feuer eröffnete. Ein Junge wurde an der Schulter getroffen, er fiel auf den Boden. Wir anderen rannten so schnell wir konnten, bis wir den Stacheldraht erreichten. Was mit dem Jungen passierte, wissen wir nicht. Ich hoffe, er wurde nicht sehr schwer verletzt.
Verletzt wurden wir alle auf diesem Weg. Ich möchte noch viel mehr erzählen. Von der Fahrt über das Meer. Vom Verstecken und langen Nächten. Von der Angst, die uns besitzt, und der Hoffnung, die uns treibt.
Übersetzung: Khaled Al Rifai
Dieser Text erschien 2017 in der 6. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.
1 Kommentar
Kommentieren →Ich lese Deine Berichte mit großem Interesse. Du kannst sehr schön schreiben. Allerdings ist es traurig zu erfahren, was Ihr alles schon erleben musstet.