Nour Alzoubie war 13 Jahre alt, als der Krieg in Syrien ausbrach. Das Mädchen, das bis dahin davon geträumt hatte, eine Prinzessin zu sein, musste mit ihrer Familie in den Kellern ihrer Nachbarn Schutz suchen. (Fotos: Sami Omar)
In den ersten Monaten des Krieges konnten wir in meiner kleinen Heimatstadt Daraa unser normales Leben weiter führen. Doch eines Tages, im Herbst 2011, hörten wir auf der Straße vor unserem Haus jemanden mit lauter Stimme brüllen. In diesem Augenblick änderte sich unser Leben radikal. Die Stimme brüllte: Verlasst Eure Häuser! Wir werden bombardiert!
Meine Mutter wusste sofort, was das bedeutete. Sie schrie uns Kinder an: „Geht nach unten! Schnell!“ Die Flugzeuge waren bereits auf dem Weg zu uns. Ich erinnere mich nicht daran, was ich fühlte. Ich weiß, dass ich nach meinen kleinen Geschwistern griff, ich wollte mich um sie kümmern. Aber meine Mutter drängte mich, weiterzugehen. Ich war selbst erst 13.
Ich wollte sehen, wie es meinem Land ging. Aber ich konnte nicht sehen, ob es schlief oder gestorben war.
Bald hörten wir die Geräusche der Bomben und beteten zu Gott, er möge unser Haus schützen. In der Nacht waren die Geräusche der Bomben dann nicht mehr zu hören. Meine Mutter rannte hochin die Küche, um für das Baby etwas zu essen zu machen. Meine Mutter hatte schon länger keine Milch mehr in ihrem Körper. Währenddessen lief ich auf unsere Terrasse.
Ich wollte sehen, wie es unserem Land ging. Aber ich konnte nicht sehen, ob es schlief oder gestorben war. In meinen Augen waren Tränen. Meine Augen weinten, aber mein Herz war starr. Und ich spürte Glück in mir. Ich war glücklich, dass wir lebten. Ich schaute in den Himmel, schloss meine Augen und betete zu Gott, er möge uns helfen. In diese Stille schoss die schreiende Stimme meiner Mutter: „Nour, komm her! Bitte schmerze mein Herz nicht! Es hat genug Schmerz, wir brauchen deine Abenteuer nicht!“
Der Strom wurde bei uns sehr schnell nach Ausbruch des Krieges abgestellt. Deshalb konnten wir nicht telefonieren und hatten wenig Kontakt nach draußen. Nach dem ersten Bombenangriff lief meine Mutter zu unserer Nachbarin und erfuhr dort, dass die Flugzeuge Befehl hatten, uns jeden Tag zu bombardieren.
Als es Nacht wurde, legten sich die Menschen um mich herum schlafen.
Weil es in unserem Haus keinen Keller gab, mussten wir bei unseren Nachbarn im Keller Schutz suchen. Meine Mutter packte ein paar Sachen für uns und sagte: „Zieht Euch an, wir gehen zur Nachbarin!“ Ich erinnere mich, dass es 16 Uhr war, als wir unser Haus verließen.
Als wir im Keller der Nachbarn ankamen, war ich überrascht zu sehen, wie viele Menschen bereits dort waren. Ich betete still vor mich hin „Oh, mein Gott, bitte hilf uns!“. Da hörten wir auch schon wieder die Flugzeuge, kurz danach fielen die Bomben. Immer mehr Menschen kamen zu uns in den Keller. Einige Männer verließen den Keller, um Platz zu machen für die Frauen und Kinder.
Als es Nacht wurde, legten sich die Menschen um mich herum schlafen. Meine Augen blieben offen. Ich konnte noch nie an einem anderen Ort als zu Hause schlafen. Ich betete und vielleicht bin ich kurz eingeschlafen, aber in meiner Erinnerung war ich die ganze Nacht über wach. Um sieben Uhr morgens weckte ich meine Mutter. Es waren keine Flugzeuge mehr zu hören. „Mama, bitte steh auf! Ich kann nicht mehr! Ich möchte nach Hause, in mein Bett! Bitte!“ Ich redete so lange auf sie ein, bis wir schließlich in unser Haus gingen und ich endlich in meinem Bett einschlafen konnte.
Wenig später wurde ich wieder geweckt. „Nour, steh auf! Lauf runter, schnell!“ Die Flugzeuge waren wieder da. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich in Gedanken wieder in Daraa. Ein Flugzeug fliegt über unserem Haus, ich zucke zusammen und spüre die schwere Müdigkeit. Aber ich sitze in Bochum an meinem Fenster. Ich lache und eine Träne läuft über mein Gesicht.
„Komm jetzt, Nour!“ Meine Mutter schimpft laut mit mir. „Nur wegen Dir sind wir hier! Die Tochter des Königs kann nicht im Keller schlafen…! Komm jetzt nach unten!“ Am Nachmittag ist der Himmel wieder ruhig.
Ich helfe meiner Mutter, unsere Kleidung zu packen und Essen vorzubereiten. Dann laufe ich kurz auf die Terrasse. Ich möchte die Luft meines Landes atmen. Die Sonne hat die Luft gewärmt. Dann schlägt ein Donnern über meinen Kopf. Ich spüre meine Füße nicht mehr. Sind wir getroffen worden? Ich laufe zu meiner Mutter, um Schutz zu finden. Eine Bombe hat ein Haus in der Nähe getroffen. Wir packen unsere Koffer und verbringen von da an zwei Monate im Keller unserer Nachbarn.
Menschen starben, Häuser wurden zerstört. Keine Schulen mehr. Keine Lebensmittel… Wir versuchten, nach Jordanien zu fliehen. Beim dritten Versuch, das war 2012, kamen wir erfolgreich dort an. Gott sei Dank.
Dieser Text erschien 2018 in der 9. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“ (>>nid#9, PDF)