Als ich noch ein Schmetterling war

Als ich noch ein Schmetterling war

In einem neuen Land, mit einer neuen Sprache, neuen Erwartungen und Perspektiven: Bin ICH ein neuer Mensch geworden? Was passiert mit meinem alten ICH?

Von Nahed Al Essa

Ich war ein fertiger Mensch damals. Ich hatte einen Beruf, eine Familie, Freunde, Nachbarn und ein Zuhause. Ein echtes Zuhause! Das Dach gehörte mir, es war echt, nicht ausgeliehen. Die Zeit beweg­te sich anders. Für mich hatte das Leben damals wenig mit Stress zu tun, mehr mit Genuss. Wie ein Schmetterling flog ich von einer Rose zur nächsten. Die Rosen, das waren meine Tätigkeiten im Alltag. Um von links nach rechts zu fahren, oder um meine Richtung zu ändern, brauchte ich keinen Schulterblick. Dies alles war, als der Himmel noch frei war, als es noch viele Schmetterlinge gab.

Das Wort „Problem“ hatte eine andere Bedeutung. Ein Problem war damals für mich, wenn ich keinen Lippenstift in mei­ner Lieblingsfarbe finden konnte. Wenn ich zu spät ins Theater kam und die bes­ten Plätze deshalb bereits belegt waren. Wenn ich am Meer war und sich plötzlich meine Allergie bemerkbar machte. Großes Glück – das bestand damals zum Beispiel darin, im Herzen von Damaskus einen Parkplatz zu finden. Als das Herz von Da­maskus noch schlug.

So belanglos sind diese Dinge angesichts meines Kummers heute. Wenn ich zurück­denke, wünsche ich mir jede einzelne Sor­ge von damals zurück. Ich möchte wieder dieses „Ich“ sein, diese Person, die das Wort „Problem“ so leichtfüßig definierte! Dieses Ich kam nach Deutschland und er­fährt das neue Leben wie eine eisig kalte

Dusche. Kaltes Wasser ist gesund, natür­lich, vor allem wenn man vor dem Feuer flieht. Aber das kalte Wasser wollte gar nicht aufhören zu fließen, als sei der Hahn kaputt. Jetzt langsam wird das Wasser wärmer, oder meine Nerven sind stärker geworden. Meine Haut scheut nicht mehr davor zurück.

Ich – das ist der Mensch, der seit zwei Jahren und sieben Monaten hier ist, 4000 Kilometer weit entfernt vom geselligen Le­ben mit den Menschen in meinem Umfeld, meiner Spontaneität, meinen alten Sorgen (oder: „Sörgchen“) und von meiner Lie­be… 4000 Kilometer liegen zwischen mir und der Person, die wie ein Schmetterling war. Meine Flügel sind schwer geworden. Aber ich achte weiter auf ihre Farben, und selbst auf die Farbe meines Lippenstiftes.

Als ich zuletzt mit meiner besten Freun­din aus meinem alten Leben telefonierte, sagte sie: „Du bist anders geworden, Du sprichst wie nach einem Plan, sortierst die Themen. Vorher sprachen wir über alles durcheinander, wie es gerade kam, in unserer eigenen Würze, das hat mir immer gut geschmeckt. Ach, könnten wir die Themen wieder anrühren, wie früher…! Hast Du auch für unsere Freundschaft einen Plan?“ Ich sagte ihr, dass ich mir Mühe geben wolle, mein altes Ich wieder­zubekommen… und dann würde ich sie anrufen. Sie wartet auf meinen Anruf. Ich werfe einen Blick zurück über meine Schulter und warte, was kommt.

Nahed Al Essa, Foto: Wolfgang Wedel

Dieser Text erschien 2018 in der 11. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.

Kontakt Nahed Al Essa: nahed.aleesa@gmail.com

1 Kommentar

Kommentieren →

Schreibe einen Kommentar