Der syrische Elektrotechniker und preisgekrönte Dichter Issam Alnajm macht seit dem vergangenen Herbst in Deutschland eine Ausbildung zum Altenpfleger. Die erste Überraschung für ihn war: die Arbeit macht ihm Freude. Die zweite Überraschung: sein Blick auf andere Menschen hat sich verändert.
Von Issam Alnajm
Im Alltag begegne ich vielen Menschen, die irgendwohin unterwegs sind; wir begegnen uns in der Stadt, auf dem Weg zur Arbeit oder in Parks. Früher habe ich mir diese Menschen nie allzu genau angeguckt, vor allem habe ich niemals darüber nachgedacht, wie es ihnen körperlich wohl gerade geht, ob sie krank sind oder sogar sturzgefährdet. Das hat sich geändert, seit ich im vergangenen Herbst eine Ausbildung zum Altenpfleger begonnen habe. Im Unterricht lernen wir viel über Gesundheit und Pflege. Dieses theoretische Wissen sollen wir an den folgenden Tagen in der praktischen Arbeit umsetzen.
Aber das neue Wissen verändert nicht nur während der Arbeit meine Augen. Ich stelle fest, dass ich auch im Alltag die Menschen anders betrachte, vor allem die alten Menschen, denen ich begegne. In meinem Hinterkopf trage ich das neue Wissen über ältere Menschen mit mir herum. Vielleicht deshalb, weil ich angefangen habe, in dieser Arbeit tatsächlich eine berufliche Perspektive für mich zu entdecken.
In Syrien habe ich Elektrotechnik studiert und in Deutschland habe ich auf verschiedenen Wegen versucht, eine Ausbildung als Bibliothekar zu machen. Aber das hat leider nicht geklappt. Nun bin ich in einem ganz anderen Bereich gelandet und ich hätte nie gedacht, dass ich dabei so zufrieden sein könnte. Ich betrete schon wieder eine neue Welt.
Gerade lernen wir, welche Symptome der Haut auf eine Krankheit hindeuten könnten. Manchmal, um Beispiel wenn ich im Bus oder in der Bahn sitze, kann ich deshalb gar nicht anders, als den Menschen um mich herum sehr genau auf ihre Gesichter und Hände zu gucken.
Diesen fürsorgenden Blick, den wir bei der Arbeit entwickeln, nehme ich mit nach draußen. Wenn mir in der Stadt ein Mensch mit einem Stock oder einem Rollator begegnet, gucke ich, ob die Gehhilfe stabil ist. In Gedanken bin ich immer sprungbereit, um jemandem zu helfen, nicht nur beim Einsteigen in den Bus.
Weil ich etwa 15 Jahre älter bin als die meisten in meinem Lehrgang, hat ein Kollege an meinem Geburtstag im Spaß zu mir gesagt: „Und demnächst werden wir dich pflegen!“ (Na, hoffentlich passt
er gut im Unterricht auf!) Dann wurde ein Lied für mich auf Deutsch und auf Arabisch gesungen. (Da ich der Einzige bei uns bin, der Arabisch kann, habe ich den arabischen Text des Liedes vorher in
lateinischer Schrift aufgeschrieben.) Wir singen immer in der Muttersprache des Geburtstagskindes. Also mal auf Polnisch, mal auf Türkisch und auf Deutsch.
Wir machen Hausbesuche. Wir begegnen vielen Menschen. Leider habe ich bisher noch nicht sehr viel mit ihnen gesprochen. Meist haben wir dafür keine Zeit, es gibt immer Zeitmangel. Wir müssen schnell weiter zum Nächsten. Manchmal spüre ich, dass die Menschen, die wir besuchen, noch länger mit uns sprechen möchten, aber das können wir leider nicht.
Neulich haben wir in dem Stadtteil, in dem ich arbeite, eine Lesung mit unserer Zeitung gemacht. Es kamen viele ältere Menschen zu dieser Lesung und ich guckte immer, ob ich wohl eine Patientin
oder einen Patienten von uns entdecken würde. Das war leider nicht der Fall, aber ich habe überlegt, wie sich das wohl anfühlen wird, wenn diese beiden Welten sich begegnen.
Ich weiß, dass bei vielen alten Menschen hier die Einsamkeit ein großes Thema ist, aber darüber weiß ich noch nicht viel. Dieses Thema behandeln wir erst im dritten Ausbildungsjahr. Dann werden wir auch über Demenz und andere psychische Krankheiten und über das Sterben sprechen. Jedenfalls bin ich bin sehr gespannt darauf, wie sich dieser neue berufliche Weg für mich weiter entwickeln wird.