Die Menschlichkeit wurde in uns begraben

Das Bekenntnis zur Menschlichkeit wurde in uns begraben

Von Samar Shanwan

Klagt mich nicht an für die Verzweiflung,
die Empörung, die in mir sind.

Alles habe ich gesehen, messerscharf,
das Verderben allerorten –
das Verschweigen.

Alles habe ich gesehen, ohne Grund,
das Auge findet kein Entkommen.

Im Schatten der Wirrnis, wie könnte unser
Bekenntnis zur Menschlichkeit überleben?
Wie kann ich in diesem Schatten schreiben?

Zufällig habe ich alles gehört, jedes Wort.
Ich war die Künderin des Schmerzes
und der Trauer.
Eine Zeugin, die schwer trägt
am Leid vieler Menschen.

Alles habe ich gehört.
Hätte ich meine Ohren verschließen können?
Es war an mir, zu hören.

Wie viele haben wir nach der Wahrheit gefragt,
um mehr zu erfahren?
Wir haben nicht oft genug gefragt.

Die Unverständigen holten mich ein,
als flüchtige Besucherin.
Die Sehnsucht nach einem vollkommenen Leben,
das Streben nach Erfüllung.

Auf halbem Wege verpassen wir unser Ziel,
eine halbe Erfüllung führt nirgendwohin.

Doch wir gewöhnen uns
an das Unvollständige.
Die Hoffnung lockt uns,
aber die Müdigkeit ist verlockender.

Die Unverständigen leben in Angst
vor dem Verlust dessen, was uns gehört.

Wir fürchten zu lachen
weil ungewiss ist, was auf das Lachen folgt.

Was kann ich schreiben –
im Schatten der vergessenen Buchstaben?

Ich habe die Mächtigen gesehen,
wie sie an ihren langen Tischen sitzen
sie planen, was sie irgendwann wieder
verwerfen.

Sie schicken uns in die Hölle,
und wir folgen ihrer Aufforderung im Eilschritt.

Die Verteidigung hat alles dargelegt,
sie hat ihr Geld verdient.
Den größten Gewinn kassieren am Ende
die Juristen.

Ein Urteil zersetzt die Justiz.
Nicht nur einmal.

Wir sehen die Politiker
die Hände von anderen Politikern schütteln.
Wir hören Worte,
aus denen das Vertrauen herausgeschüttelt wurde.
Das alles hat es schon gegeben,
nichts ist neu.

Die Tage tragen einen Fehler in sich.
Das alles wird es wieder geben,
der größte Fehler
wurde noch nicht gemacht.

Samar Shanwan, Foto: privat

Unsere Sprache hat noch viele Wörter,
die wir noch nicht gehört haben.
Wörter, die schmerzen –
Wehklagen auf der einen,
Schmerzensrufe auf der anderen Seite,
dazwischen die Wahrheit.

Ich sah die Reichen unterwürfig
die Hand des Klerus küssen.
Welche Grund, welche Not hatte der reiche Mann?

In den ärmsten Winkeln sitzen Menschen,
deren Stirn so dringend zu küssen wäre.

Ich hörte die Professoren
die alten Geschichten wiederholen
und andere Wahrheiten vergraben.

Was soll ich schreiben
im Schatten der Bedeutungen?
Die Bedeutungen liegen im Dunkeln.
Unsere Worte verhallen
zwischen Rufen und Stille.
Momente der Verzweiflung nehmen uns sinnlos ein.

Als ich zu mir zurückkehrte,
fand ich das Haus in Asche,
meine Bücher an die Wand genagelt.

Was soll ich schreiben
im Schatten der Verhungerten?

Das Bekenntnis zur Menschlichkeit
wurde in uns begraben.

Übersetzung aus dem Arabischen & Bearbeitung: Rama Abdo (Tochter der Autorin, 17 Jahre) & nid
Mahmoud Aldalati, Amel Fellah, Khaled Al Rifai, Dorte Huneke-Nollmann I Mitarbeit: Issam Alnajm, Omar Alnabulsi, Sipan Hussein.

Dieser Text erschien 2019 in der 14. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“, Sonderausgabe FRAUEN.

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