Die nid-Zeitung lese ich seit etwa einem Jahr…

Ausnahmsweise an dieser Stelle: ein Leserinnenbrief!

Weil diese „Bochumer Oma“ (alias Sophie Reich, 77, Autorin) beispielhaft genau das beschreibt, was wir uns für unsere Zeitung wünschen: Dass Menschen, die schon lange in Deutschland leben, durch die nid-Zeitung neue Perspektiven kennenlernen, Klischees und Fremdheitsgefühle ablegen, mehr Dialoge wagen…

Oma – deutsch – Bochum

Von Sophie Reich (77)

Die nid Zeitung lese ich seit etwa einem Jahr, vorher wusste ich leider nichts von deren Existenz. Jetzt also die Ausgabe Frühjahr 2020, verspätet wegen der Pandemie, lese alles mit großem Interesse und nehme mir vor, bei der nächsten Paketlieferung ein Trinkgeld für den Boten bereit zu halten! (Natürlich weiß ich vom Zeitdruck, von den schlechten Arbeitsbedingungen: aber der Bote läutet an meiner Wohnung im 2. Stock, legt das Paket hinter der Haustür ab und ist im Nu wieder fort).

Ich lese Berichte von Krankenpflegern, die hier eine Ausbildung absolvieren, (der Pflegenotstand in Deutschland!) sicher nicht immer aus eigenem Antrieb, vermutlich auch, um überhaupt eine Perspektive zu haben, da das in der Heimat Erlernte nicht anerkannt wird. In einem Land, das es Jedem, der integrationswillig, arbeitsfreudig ist, mit seit 2015 besonders überlasteten, angenervten Jobcentermitarbeitern zusätzlich schwer macht, mit Angestellten im Ausländer-Amt, die selbst über neue, aktuelle Vorschriften, das Asyl-und Bleiberecht betreffend, nicht gründlich informiert sind, die Sprachbarriere, die ihr Übriges tut…

Ich lese das nid-Magazin, weil ich verstehen möchte, wie Flüchtlinge in Deutschland leben (müssen), welche Ängste, Sorgen oder Freuden sie haben, auch wie Hass – auf beiden Seiten – entsteht.

Lese ich Gedichte in nid, wie „Das Verbrechen der Schokolade“ (von Lamia Hassow), fühle ich mich mit der Schreiberin verbunden, weil sie sehr poetisch eine Schwäche thematisiert, die ich selber habe: Das macht, dass sich mein Gefühl von Fremdheit in Verständnis, gar Vertrautheit, verwandelt! Denn auch ich hatte (habe) Angst. Angst vor Ungewohntem, Neuen, vor der fremden Kultur und Religion, den kopftuchtragenden Frauen, den dunkel-bärtigen Gesichtern, die so zahlreich in Einkaufs-Zentren, auf den Straßen zu sehen und zu hören sind, wenn lautstark in ein Smartphone gesprochen wird.

Angst, nicht verstanden zu werden, wenn im Krankenhaus nach einer OP ein schlecht deutsch sprechender Arzt an meinem Bett steht, nach meinem Zustand, den Schmerzen fragt, empfundene Scham, wenn mir ein ausländischer Pfleger bei intimsten Verrichtungen im Bad helfen will, was ich spontan ablehnte: Lieber quäle ich mich allein. Aber erst jetzt frage ich, wie es ihm bei dieser Arbeit gehen muss, wenn in seiner Kultur diese Art Umgang nur bei der Ehefrau oder Mutter überhaupt denkbar ist? Wie viel Überwindung mag es ihn kosten?

Vor kurzem, im Wartezimmer der Frauenarztpraxis, die erst vor wenigen Monaten (aus Altersgründen) von der mir seit langem vertrauten Ärztin an eine jüngere Kollegin aus dem Iran übergeben wurde, saßen auf den Stühlen ausschließlich Frauen mit Migrationshintergrund, drei davon mit Kopftuch, zum Teil begleitet von ihren Ehemännern (vermute ich) und der Eindruck, nicht mehr zuhause, sondern urplötzlich in einem fremden Land zu sein, war so stark, dass ich (vorerst) wieder gegangen bin.

Wir können uns nur bemühen, voneinander zu lernen, möglichst vorurteilsfrei aufeinander zugehen: nid hilft dabei: Danke den Machern und ihrem Engagement!

W. Sophie Reich, Bochum, im Juni 2020

P.S.: In Bochum gehöre ich zu einer Autorengruppe, die regelmäßig zu öffentlichen Lesungen einlädt. Leider sind einige der zehn Autoren – die Gruppe besteht seit 2008 – so betagt wie ich (77) und älter. Es fehlt an neuen Impulsen, an Schwung, an jüngerem Nachwuchs. Ich stelle mir eine multikulturelle Mischung vor, vielleicht fühlt sich jemand angesprochen?

Anm. d. Red.: Kontakte stellen wir gerne her.

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