Grete – Gesicht einer Flucht

In der sehr erfolgreichen Wanderausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“, konzipiert von der Journalistin Gerburgis Sommer, erzählen Menschen unterschiedlicher Generationen und Kulturen in kurzen Portraits von ihrer Fluchterfahrung. Der folgende Text der 92-jährigen Grete aus Haltern am See erschien im Januar 2019 in kurdischer Sprache in einer Sonderausgabe der nid-Zeitung – mit freundlicher Genehmigung des Ausstellungsteams „Schau mich an“.
Die 92-jährige Grete aus Haltern am See erzählt, wie sie als junge Frau aus Ostpreußen zunächst verschleppt wurde und später fliehen musste. Als Flüchtling kam sie nach Deutschland.

Im Januar 1945 hatte der Russe Ostpreußen eingeschlossen. Da war ich 20 Jahre alt. Wir wollten aus Elbing noch übers Wasser und die Landenge fliehen, aber es war zu spät. Die Russen haben zuerst alle Männer mitgenommen. Meinen Vater habe ich nie wieder gesehen.

Das Foto zeigt die heute 92 Jahre alte Grete in jungen Jahren – etwa im Alter ihrer Flucht. Foto: privat

Wir Frauen und Kinder wurden in einen Schafstall außerhalb der Stadt verjagt, der Schnee lag 30 cm hoch. Nach einigen Tagen wagten wir uns in die Siedlung. Russen mit aufgesetzten Bajonetten griffen uns auf. Meine Mutter und ich sind ganz eng beieinander gelaufen. „Wenn sie schießen, dann sind wir beide weg“, haben wir gedacht. Dann wurden meine Mutter und ich getrennt. Sie wurde bis ans Eismeer verschleppt und kam erst 1947 zurück.

Eines Tages hieß es „Auf! Auf!“ Wir waren zwei bis drei Tage lang zu Fuß unterwegs, viele Leute, tausend und mehr. Als wir in Mohrungen ankamen, waren die meisten vor Schwäche gestorben. Auf offenen Lastwagen fuhren wir nach Insterburg. Dort wurden jeweils 42 Personen in einen Eisenbahnwaggon geladen. Drei Wochen lang haben wir nur gehockt.
Durch das Uralgebirge kamen wir in eine Stadt hinter Omsk, wo wir unter Tage arbeiten sollten. Später machten wir in der Steppe das Land urbar. Dort lebten wir in 16- und 32-Mann Zelten. Eine sehr nette deutsche Jüdin, Ida, hat uns betreut. Sie hat alles für uns getan. Sie sagte: „Ich habe Euch Deutschen alle gehasst, aber ihr habt genauso wenig Schuld wie ich.“

Am 25. Juli 1945 ging es Richtung Heimat. Wir hörten, dass in Elbing die Polen sind, konnten also nicht nach Hause. Über mehrere Stationen ging ich im Sommer 1946 nach Wesel. Eine Bauernfamilie hat mich aufgenommen und ich habe viel gearbeitet. Später lernte ich meinen Mann kennen. Er war Bahnarbeiter und verwundet aus der englischen Gefangenschaft zurückgekehrt. Wir haben fünf Kinder bekommen. 1968 haben wir in Haltern am See gebaut. Wir hatten schon eine schöne Zeit.

Meine Geschichte habe ich keinem richtig erzählt, erst später, als die Kinder größer waren. Viele wissen gar nicht, dass ich aus Ostpreußen komme. Die denken, ich stamme um die Ecke, aus Wesel. Vertriebene waren nach dem Krieg nicht gut gelitten. Es ist so wie mit den Flüchtlingen heute, über die wird auch nicht gut gesprochen. Mir tun sie leid. Viele sind zuhause besser aufgehoben, als die riskante Überfahrt zu wagen. Aber man kann sich kein Urteil erlauben. Wenn ich gewusst hätte, dass die Russen uns vertreiben, wäre ich vorher auch geflohen.

Mehr Informationen und aktuelle Termine unter www.gesicht-einer-flucht.de

Ansicht der gedruckten Seite – in der ersten nid-Sonderausgabe in kurdischer und arabischer Sprache, erschienen im Januar 2019.

1 Kommentar

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kommt mir sehr bekannt vor. Meine Großeltern sind aus Niederschlesien und auch über Irrungen und Wirrungen und 7jähriger Gefangenschaft im Lager in Tschechien mit 6 Kindern und Urgroßeltern nach Süddeutschland gekommen. Flüchtling war immer ein Schimpfwort an das ich mich noch gut als Kind erinnere.

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