Kritik ist in Deutschland nicht
strafbar – sie ist sogar erwünscht.
Beleidigungen sind strafbar.
Issam Alnajm
Manchmal, zum Glück selten, machen wir in der nid-Redaktion die Erfahrung, dass unsere Texte und Meinungen auf Ablehnung stoßen. Wo fängt Meinungsfreiheit an, wo hört sie auf? Im nid-Manifest schrieben wir im Mai 2017: „Unsere gemeinsame politische Basis besteht darin, dass wir in einer friedlichen, demokratischen Gesellschaft ohne Rassismus leben möchten. In fast allen anderen Dingen sind wir unterschiedlicher Meinung … Jede friedliche Meinung wird respektiert.“ Respektlose Äußerungen, Beschimpfungen und Drohungen gehören in unseren Augen nicht dazu. In Deutschland herrscht Religionsfreiheit und zum nid-Team gehören Menschen unterschiedlicher religiöser und politischer Überzeugungen. Das finden wir gut. Das wollen wir genau so erhalten.
Von Khaled Al Rifai
Ich möchte von zwei Ereignissen erzählen: In unserer Zeitung habe ich 2016 einen Text darüber geschrieben, dass viele Deutsche sich zur Begrüßung umarmen – und dass ich selbst unbedingt auch einmal umarmt werden wollte, um das Gefühl zu haben, dazu zu gehören. (nid-zeitung.de/die-deutsche-umarmung) In meinem Heimatland ist diese Geste undenkbar, vor allem zwischen Männern und Frauen.
Auf meinen Text habe ich sehr viele wunderbare Reaktionen bekommen. Die Deutschen lachen überrascht und viele nehmen mich spontan freundschaftlich in den Arm, wenn ich den Text öffentlich vortrage, was mich sehr glücklich macht! Von meinen Landsleuten erntete ich für diesen Text Spott, Hohn und Verachtung. Sogar ein Freund von mir schimpfte: „Du versuchst die ganze Zeit, Dich zu „deutschisieren“ und verlässt immer mehr unsere Tradition!“
Besonders krass wurde es, als ich meinen Text in den sozialen Medien präsentierte (auf einer deutschen Seite, die allerdings vor allem von arabischsprachigen Usern benutzt wird). Ich wurde mit Worten beschimpft, die ich hier nicht wiederholen kann. In Deutschland habe ich gelernt, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern. In unserem nid-Zeitungsteam sprechen wir oft darüber, wie wir unsere Meinung ausdrücken können, ohne anderen auf die Füße zu treten.
Als im Mai der muslimische Fastenmonat Ramadan begann, schrieben mehrere aus unserem Team auf unserer Internetseite Texte darüber, wie sie diese Zeit gestalten und warum sie fasten. Ich schrieb, dass ich mit diesem islamischen Ritual aufgewachsen bin. Dass ich heute aber nicht mehr faste und mich auch nicht mehr als Muslim bezeichne. Mein Wunsch ist, „dass die Gläubigen ihre Religion in ihren Herzen tragen, nicht nach außen.“ (nid-zeitung.de/ich-sehe-das-kritisch) Von meinen Landsleuten wurde ich daraufhin in den sozialen Medien in einer Weise beschimpft, die mir unheimlich war.
Ich wünsche mir, dass ich hier in einer Gesellschaft leben kann, in der unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen ohne Schimpf und Schande ausgehalten werden – auch von mir selbst.
Ähnlich negative Erfahrungen machten auch andere Personen aus unserem Team: Interviews und andere Beiträge aus deutschen Redaktionen wurden über die sozialen Medien geteilt und in einzelnen Gruppen uferlos und hässlich kommentiert.
Demokratie ist die einzige politische Grundhaltung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein.
Oskar Negt, deutscher Sozialphilosoph mit Fluchterfahrung
Wenn von Flucht und Integration gesprochen wird, tauchen meist Bilder von jungen arabischen Männern mit muslimischen Überzeugungen auf. Ich bin über 30, eine Frau, kurdisch, geflüchtet und ich habe ein kritisches Verhältnis zum Islam. Wo tauche ich auf?
aus dem nid-Team
Die christliche Religion hat sich durch Kritik weiterentwickelt. Sinnvolle Kritik kann uns nach vorne bringen. Menschen entwickeln sich. Ideen entwickeln sich. Ohne Entwicklung sterben die Ideen.
Issam Alnajm