Ohne Verständnis ist mein Leben einfacher geworden
Warum Männer andere Rechte genießen sollen als Frauen, das konnte uns in der nid-Frauen-Redaktion noch niemand verständlich machen. Rasha Halabi hat aufgehört, es verstehen zu wollen.
Von Rasha Halabi
In der Schule haben meine Freundinnen mir den Spitznamen „Bedi Ef‘ham“ gegeben, das bedeutet übersetzt „ich will verstehen“. In den Pausen zwischen dem Unterricht trafen wir uns jeden Tag, um gegenseitig unsere Hausaufgaben abzuschreiben. Das sparte uns Zeit und Mühe.
Die Idee dabei war natürlich, dass jede genau das ins Heft schrieb, was die andere aufgeschrieben hatte. Sonst wären wir ja schön blöd, nicht wahr? Wir gingen immerhin aufs Gymnasium.
Bei mir dauerte das Abschreiben allerdings immer eine Ewigkeit und meine Freundinnen wurden jedes Mal sehr ungeduldig – weil ich alles, was ich aufschrieb, erst verstehen wollte. Egal, wie viel Zeit es mir nahm.
Meine Freundinnen machten sich einen Spaß daraus, mich „Bedi Ef‘ham“ zu nennen. Mir gefiel der Name, ich nahm seine Bedeutung ernst. Am liebsten wollte ich den Namen für immer behalten. Denn ich war überzeugt: je besser ich darin würde, alles zu verstehen, desto größer würden meine Kraft und mein Selbstvertrauen.
Im Laufe der Zeit stellte ich jedoch fest, dass es Dinge gibt, die mir wohl für immer unverständlich bleiben werden, die sich gegen meinen Verstand auflehnen. So gewöhnte ich mir eine neue, umgekehrte Verhaltensweise an: Ich gewöhnte mir an, nichts verstehen zu wollen. In dieser Haltung war ich ebenso beharrlich wie zuvor in der anderen. Und ich stellte fest, dass meine Kraft und mein Selbstvertrauen wuchsen, je weniger ich mich um das Verstehen bemühte. Heute spüre ich eine unbeschreibliche Heiterkeit, weil ich es genieße, ein mangelhaftes Verständnis von bestimmten Dingen zu haben.
Ich erlangte eine außergewöhnliche Distanz zu meinem Leben, mein Horizont erweiterte sich bis zur Unkenntlichkeit und ermöglichte mir, ein Mensch mit besten Voraussetzungen zu sein.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum auf meinen Träumen und Zielen seit dem Moment meiner Geburt ein Deckel liegt – während alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um für die männlichen Neugeborenen eine vielversprechende Zukunft zu gestalten.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum es nötig, recht und akzeptabel sein soll, mich von Bildung und beruflichen Zielen fern zu halten. Und wie gleichzeitig von mir erwartet werden kann, dass ich eine gebildete, verantwortungsvolle, effizient arbeitende Generation heranziehen soll.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich auf Demonstrationen lautstark dafür eintreten, in Vereinen und Organisationen dafür streiten soll, dass ich die Rechte bekomme, die jedem Menschen grundsätzlich zustehen. Während dem Mann diese Rechte in vollem Umfang in die Wiege gelegt werden. Und damit nicht genug: Der Mann verfügt außerdem darüber, welche Rechte alle Frauen neben ihm genießen.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum es für mich als Frau außergewöhnlich sein soll, in einem bestimmten Alter immer noch unverheiratet zu sein. Warum eine unverheiratete ältere Frau als armselig betrachtet und auf sie herabgeschaut wird, während die Verheiratung eines minderjährigen Mädchens als normal gilt.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich nicht würdig und in der Lage sein soll, meine eigenen Entscheidungen und Interessen zu vertreten. Warum ich dafür immer einen Mann zu Rate ziehen soll, während ich die erste und oberste Verantwortung für meine Kinder habe.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich danach streben sollte, einen Mann an meiner Seite zu haben, um mein Leben vollkommen zu machen – wenn dies für den Mann nur bedeutet, dass er die Vormundschaft für die Frau übernimmt, welche ihm durch die Religion und die Gesellschaft gewährt wird.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich als verwitwete oder geschiedene Frau als wehrlos betrachtet werde. Warum ich einen Mann suchen soll, der sich bereit erklärt, mich aus dieser Situation zu retten, mich zu heiraten. Während der geschiedene Mann richtig gehandelt hat – weil seine Frau ganz offensichtlich ihre häuslichen und ehelichen Pflichten nicht erfüllt hat.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum die Form meiner frei gewählten Kleidung ein öffentliches Ärgernis sein kann, als unsittlich betrachtet. Wenn von Männern hingegen die weiblichen Genitalien (ihrer Schwestern oder Mütter) ganz offen benannt werden, wütend im Streit oder lachend im Spaß, droht kein Respektverlust.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich meinen Körper verstecken soll, um keine männlichen Instinkte zu wecken – während Männer sich in der Öffentlichkeit in ihrer ganzen männlichen Schönheit präsentieren und Bewunderung ernten, ohne Rücksicht darauf, dass meine weiblichen Instinkte Purzelbäume schlagen könnten.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum mein Körper und meine Sexualität ein Verstoß gegen die Moral der Gesellschaft sein soll – während die sexuellen Bedürfnisse des Mannes als natürlich betrachtet werden, und sie beschädigen sein gesellschaftliches Ansehen nicht.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich mich an die Regeln und Gesetze einer Gesellschaft halten soll, deren Fundament ins Wanken gerät, sobald ich vor Freude tanze und mit meinem Hintern wackele.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum ich meine Stimmungen und Empfindungen im Keim ersticken soll, um die Ehre meiner Familie und meines Mannes zu schützen – während dem Mann, gemäß seinem Alter, eine ganze Reihe von Eigentümlichkeiten zugebilligt werden.
Glücklich, weil mir nie verständlich war und sein wird, warum alle Reinheit, Tugend und Ehre der Gesellschaft allein auf die Frau konzentriert sein soll. Weshalb es so leicht ist, die Frau im Namen der Tugend zu verletzen, sie im Namen der Liebe in Angst zu versetzen, im Namen der Eifersucht zu fangen, im Namen der ehelichen Gemeinschaft einzugrenzen, zu verkaufen und im Namen der Ehre zu töten.
Manche werfen mir vor, meine Heiterkeit sei ein Aufstand gegen die Tradition, unser ethisches Grundverständnis, unsere gesellschaftlichen Grundlagen. Andere sehen darin sogar einen Aufruf zu einem freizügigen, unmoralischen, ausschweifenden Leben.
Ich gebe offen zu: Es erfüllt mich mit großer Freude, dass auch diese Vorwürfe zu den Dingen gehören, die ich nicht mehr versuche zu verstehen.
Ich möchte alle Frauen auf dieser Welt dazu ermutigen, sich von den Schuldgefühlen zu befreien, die jeder Frau in ihrer Erziehung auferlegt werden, durch eine vermeintliche Sündhaftigkeit. Damit das Leben für sie erträglicher wird in einer Gesellschaft, die darüber bestimmt, welche Rechte und Freiheiten die Frau hat. Das kann von Familie zu Familie, von Region zu Region, von Lebensphase zu Lebensphase unterschiedlich sein, ausgehend von der Offenheit und Toleranz der Männer.
Und schließlich möchte ich all jene ermutigen, die die Freiheit der Frau beherrschen wollen: Beherrscht doch einmal Euren Verstand!
Der Körper der Frau zeugt zunächst einmal nur von ihrer physischen Existenz als vollwertige Person. Niemand darf der Frau diese Existenz absprechen, wer auch immer er ist und welche Begründung er dafür gibt. Befreit Euch von diesem engen Denken. Befreit Euren Verstand aus den engen Mauern, die uns Frauen von Kopf bis Fuß gefangen halten.
Hört auf, die Frau auf Erden auf das Schamhafte zu reduzieren und im Himmel als Jungfrau zu preisen.
Übersetzung: Amel Fellah
Rasha Halabi (37) ist in Homs, der drittgrößten Stadt in Syrien, geboren und aufgewachsen. In Aleppo studierte sie Bank- und Finanzwesen und zog später nach Damaskus. Im September 2015 kam sie nach Deutschland. Sie ist geschieden, lebt in Berlin und arbeitet als kaufmännische Sachbearbeiterin bei einem Elektrobus-Hersteller.
Dieser Text erschien 2019 in der 14. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“, Sonderausgabe FRAUEN.