Von Rahaf Aldabbagh
Wenn Du morgens erwachst, mein geliebtes Land,
meine Heimat,
möge ein Wohlgefühl Dich erwarten.
Das wünsche ich Dir
jeden Morgen, wenn ich erwache,
und jeden Abend, wenn die Sonne untergeht.
In meinen Gedanken spreche ich zu Dir
als wäre es erst gestern gewesen, dass ich Dich verlassen musste.
Ich höre und sehe,
dass Du Dich verändert hast,
so wie ich mich verändert habe.
Und trotzdem,
meine schöne, geliebte Heimat,
erzähle ich den Menschen hier so viel von Dir,
ich singe Deine Lieder und schreibe über Dich,
auch wenn die Menschen irgendwann müde werden, dies zu hören.
Ich erschaffe Bilder von Dir, die jede Wirklichkeit übertreffen.
In den Straßen, durch die ich laufe, rieche ich den Duft des Jasmins und der Rosen.
Schmucklose Orte, die in meinem Herzen auf schmerzende Weise so wunderschön sind.
Ich wundere mich, wie scharf die Erinnerungen in meinem Kopf gespeichert sind,
jedes Detail,
jede Ecke,
jedes Buch, das jemals auf meinem Schreibtisch gelegen hat,
sehe ich klar umrissen vor mir.
Die Sehnsucht kommt nicht zur Ruhe
sie verstummt nicht,
wird nicht leiser.
Wenn Du morgens erwachst, mein geliebtes Land,
meine Heimat,
möge die Liebe Dich erwarten,
eine Liebe, die bei der Geburt in mich gepflanzt wurde,
die ab und zu ins Wanken gerät,
wenn sie leidet,
die aber trotz aller Schatten tief in mein Herz gezeichnet ist.
Meine neue Heimat
liegt so fern von Dir
und wird mir nie so nah sein wie meine alte, geliebte Heimat.
Meine neue Heimat
scheitert wie eine Stiefmutter daran,
mir eine echte Mutter zu sein.
Die Liebe einer Mutter ist ein Instinkt,
tief in sie hineingeboren,
so wie meine Liebe zu Dir.
Wenn Du morgens erwachst, mein geliebtes Land,
meine Heimat,
möge die Freude Dich erwarten.
Eine Freude gefüllt mit Tränen, Leid und Verlusten,
eine Freude, die Verletzungen erlitten hat
und nun ohne Arme tanzen muss.
Eine Freude, der ein stechender Schmerz innewohnt,
aber gefüllt mit Erinnerungen und Geschichten,
die von uns handeln.
Wenn Du morgens erwachst, mein geliebtes Land,
meine Heimat,
mögest Du in mein Gesicht schauen,
dessen Züge reifer geworden sind,
durch alles, was passiert ist,
durch den Schmerz, der sich träge und kalt anfühlt,
wie das Wetter in meiner neuen Heimat.
Schau auch auf meinen Sohn,
der Dich noch immer nicht kennenlernen durfte.
Es macht mir Angst zu denken,
dass er Dich vielleicht nie kennenlernen wird.
Ich bin Dein Morgen,
wenn ich, in einem täglichen Ritual, auf die Fotos meiner Familie schaue,
wenn ich Deine Lieder singe, in denen ich mich zu Hause fühle,
in Deinen Schwächen, Deinen Stärken,
mit Deinem Duft, der bis ans Ende aller Tage an meiner Seele haften wird.
Wenn Du abends schlafen gehst, mein geliebtes Land,
meine Heimat,
möge ein Wohlgefühl Dich erwarten.
Eines Tages werden wir uns wiedersehen
und ich werde Dir von Orten berichten,
die keine Ähnlichkeit mit Dir haben.
Vielleicht sind diese Orte größer und schöner als Du es bist,
aber sie sind so eng, dass meine Seele darin keinen Platz findet,
meine Seele, die nur an einem Ort ihre Heimat haben kann.
Rahaf Aldabbagh (29) wurde in Syrien geboren und musste 2015 vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Deutschland fliehen. Als Bauingenieurin hat sie in Deutschland ein Masterstudium aufgenommen. Über das Schreiben sagt sie: „Mit einem Stift und Papier fühle ich mich frei.“
Dieser Text erschien 2021 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“.
2 Kommentare
Kommentieren →Liebe Rahaf,
Heimat ist Heimat. Kein anderes Land kann dir die Heimat ersetzen. Ich wünsche dir Glück und Zufriedenheit in Deutschland. Für dein Heimatland wünsche ich den lang ersehnten Frieden, leider ist dieser immer noch sehr weit entfernt.
Schaue nach vorne und mach das Beste aus deiner Situation.
Ich kann dein Heimweh gut verstehen und wünsche dir alles Gute. 🌼🌹🌻
Vielen Dank für deine Wünsche, ich versuche immer nach vorne zu schauen, aber manchmal man fühlt sich müde und allein
Ganz liebe Grüße