Von Ahmed Amir
Übersetzung Issam Al-Najm
In meiner Heimat hören die Kinder von den großen Taten und kämpferischen Erfolgen des Präsidenten schon, wenn sie noch im Mutterleib sind. Das neugeborene Kind sieht im Geburtszimmer zuallererst ein Foto des Präsidenten. Wenn das Kind nach Hause gebracht wird – das gleiche Bild. Die Fotos hängen überall: in den Krankenhäusern, in den Schulen, in allen öffentlichen Gebäuden und in den privaten Wohnzimmern.
Wenn das Kind aufwächst, lernt es, den Präsidenten zu lieben. Im Fernsehen wird der Präsident gelobt und wenn das Kind 12 Jahre alt ist, tritt es einer Jugendorganisation bei, die zur Partei des Präsidenten gehört. Es ist nicht in der Lage, zu entscheiden, zu denken, was es will.
Es begegnet einer großen Angst in seinem Herzen. Diese Angst vor dem Präsidenten wohnt auch zwischen den Erwachsenen, sogar in den Familien. Die Angst, dass man von jemandem verraten werden könnte. Dass eine unpassende Bemerkung öffentlich werden könnte… Dann käme die Geheimpolizei und wir möchten nicht darüber sprechen, was dann passieren kann.
Als ich vor zweieinhalb Jahren nach Deutschland kam, fand ich keine großen Statuen, die den Bundespräsidenten zeigen oder die Bundeskanzlerin. In den Schulen meiner Kinder hängen keine Fotos von Angela Merkel oder dem Bundespräsidenten. Das war für mich ungewohnt. Ich erlebe das als große Freiheit.
In meinem Land gibt es eine Verfassung, die den europäischen Gesetzen ganz ähnlich ist. Aber unsere Gesetze sind heute nur Tusche auf Papier. Sie werden nicht befolgt. Nur das Wort des Präsidenten zählt. Wir haben viele Politiker erlebt, die Sklaven ihres Stuhls waren: Sie tun alles, um im Amt zu bleiben. Ich finde es schlimm, wenn Politiker wie Götter verehrt werden.
Von Amir Ahmed
Man braucht nur das Buch „1984“ von George Orwell zu lesen. Genauso war es bei uns in Syrien. ‚Sprich nicht so laut, die Wände haben Ohren‘, sagten die Menschen immer. In jeder Stadt gibt es mindestens eine Brücke, die nach dem Präsidenten benannt ist, eine Schule, einen Park, einen Stadtteil, sogar die Bibliothek. Wir sollten die Menschen heiligen, nicht die Mächtigen. Als ich das erste Mal in eine deutsche Ausländerbehörde kam, fand ich kein Bild von Angela Merkel. In Deutschland ist das Gesetz die stärkste Macht. Darum können die Menschen sich besser vertrauen.
Issam Al-Najm
Wenn du wissen willst, wer dich beherrscht, musst du nur herausfinden, wen du nicht kritisieren darfst.
Voltaire, französischer Philosoph und Aufklärer
Titelfoto: Sandra Schuck
Dieser Beitrag erschien 2018 in der 10. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.