In meinem Leben möchte ich laufen können
Von Lamia Hassow
In den kurdischen Gebieten, in denen ich aufgewachsen bin, gibt es die Redewendung „Endlich hast Du den Wolf getötet!“ Wir sagen das, wenn jemand eine Arbeit erledigt hat, die er oder sie vorher lange aufgeschoben hat. Auch ich möchte meinen Wolf umbringen! Deswegen sitze ich heute hier, vor meinem Kleiderschrank. Auf ein Neues, lieber Kleiderschrank!
Die „Mission Impossible“, vor der ich stehe, lautet: Befreie mich von der alten, verbrauchten Kleidung. Die alten Sachen halten mich davon ab, neue zu kaufen. Denn in meinem Kopf ist immer der Gedanke: mein Schrank ist voll, ich brauche nichts. Aber die Kleidung in meinem Schrank ist alt, nutzlos und nimmt viel Platz ein. Ich brauche Kleidung, die passt, mich warmhält und in der ich mich frei bewegen kann.
Es fällt mir schwer, diese Mission zu erledigen. Meine alten Sachen führen einen emotionalen Krieg mit mir. Soll ich diesen Pullover wirklich wegwerfen? Und das Kleid? Oh, nein! Der Pullover erzählt viele schöne Dinge, die wir zusammen erlebt haben. Das Kleid lässt mich nicht in Ruhe. Ein guter Freund hat es mir geschenkt. Kann ich es einfach so weggeben?
Mein ganzes Leben ist wie mein Kleiderschrank: Ich bewahre viele Erinnerungen und Freundschaften auf. Weil sie zu mir gehören. Weil Treue, Liebe, Freundschaft, Familie und eine religiöse Überzeugung mich daran festhalten lassen. Oder eine Kraft, von der ich nicht weiß.
Diese persönlichen Beziehungen führen jedoch den gleichen Krieg mit mir. Was mache ich mit den freundschaftlichen und familiären Bindungen, in denen ich mich weder vor noch zurück bewegen kann? Als steckten meine Füße in Beton. Was mache ich mit den Menschen, die mir Trauer und Tränen geben, anstatt Freude?
Ich habe Frieden geschlossen mit diesen Fragen, ich habe den Wolf getötet.
In meinem Leben möchte ich laufen können, mit freien Füßen. Es kann nicht alles zu mir passen. Manches lässt sich umnähen. Anderes nicht.
Nur in meinem Kleiderschrank läuft der Wolf noch frei herum. Aber eines Tages werde ich ihn kriegen.
Dieser Text erschien 2018 in der 12. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.
Kontakt Lamia Hassow: hassow-l@hotmail.com