Meine Liebe, mein Schmerz

Weil ihre Mutter nicht noch mehr Kinder verlieren wollte, floh Boushra El Dalaf 2015 nach Bochum.

Als ich vor fünf Jahren in Aleppo geheiratet habe, zog ich mit meinem Mann in eine Wohnung ganz in der Nähe meiner Eltern. Ich besuchte meine Eltern fast jeden Tag. Eine schönere Erinnerung, ein schöneres Leben kann ich mir nicht vorstellen. Meinen Mann störte es nicht, dass ich meine Familie ständig besuchte, so sehr liebte er mich. Ich danke Allah dafür.
Auf diese Weise verlief unser Leben, bis eines Tages die Freie Syrische Armee in unsere Stadt kam. Damit begann unser Leiden. Die Freie Syrische Armee kämpft gegen die Regierung und für die Freiheit, aber wo sie auftauchten, brachten sie den Menschen Leid.
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Boushra El Dalaf mit ihren Redaktionskollegen von der Zeitung „Neu in Deutschland“ im November 2016 in Berlin.

In meiner Familie waren wir zehn Mädchen und vier Jungen – von einer Mutter und einem Vater. Auf unseren Gesichtern lag der Schimmer des Glücks. Mein fünf Jahre älterer Bruder war mir in all den Jahren am nächsten. Er war auch meiner Mutter sehr nah, hörte auf ihr Wort. Er war damals der einzige von uns, der nicht verheiratet war. Alle meine Brüder und Schwestern sind verheiratet, die meisten haben Kinder.

Mein Vater ist schon gestorben, meine Mutter lebt. Aber Allah lässt sie bitter weiterleben. Alle meine Geschwister haben entschieden, aus unserer Stadt zu fliehen oder gar in andere Länder zu gehen. Einer meiner Brüder ging als Schneider nach Damaskus. Er wäre besser nicht dorthin gegangen. Bis heute fehlt uns jede Spur von ihm. Meiner Mutter zerreißt es das Herz. Um ihn zu suchen, ging ein anderer Bruder von mir ebenfalls nach Damaskus. Unter Bomben arbeitete er als Taxifahrer. Eines Tages wurde er von einem Fahrgast ausgeraubt und vom Auto aus auf die Straße geworfen. Meine Mutter war froh, als er nach Hause kam, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war. Sie hätte das nicht ertragen. Aber seitdem hasst er das Leben.
Als er wenige Tage später zur Armee eingezogen wurde, sah er darin die Chance auf ein festes Einkommen – und eine Hoffnung, meinen vermissten Bruder wiederzufinden. Wir sahen auch ihn seitdem kaum noch.
Im Namen Allahs drängte ich sie, mir die Wahrheit zu sagen.
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Über ihre Flucht nach Deutschland verfasste Boushra El Dalaf ein Tagebuch.

Als unser Haus in Aleppo bombardiert wurde, drängte meine Mutter mich und meinen Mann, nach Libyen zu gehen. Sie fürchtete, noch mehr Kinder zu verlieren. Mein Mann war arbeitslos geworden und meine Brüder waren alle in der Armee oder aus unserer Stadt fortgegangen. Wir waren schutzlos geworden.

In Libyen verlor ich den Kontakt zu meiner Familie in Aleppo. Es gab keine Telefonverbindung dorthin und meine Brüder waren an verschiedenen Orten – unter Bomben, in der Gefahr zu verhungern. Vier Monate später bekam ich einen Anruf von meiner Schwester. Ich schrak zusammen, als ich ihre Stimme
hörte. Im Namen Allahs drängte ich sie, mir die Wahrheit zu sagen: Lebte meine Mutter noch? Lebten die anderen aus unserer Familie?
Einer meiner Brüder war erschossen worden, ein anderer lag schwer verletzt im Koma. Ich stand unter Schock, konnte nicht sprechen, weinte unaufhörlich und wünschte mir nichts sehnlicher, als bei meiner Mutter zu sein. Warum muss mir so etwas widerfahren, warum muss ich erleben, dass meine Geschwister auf diese Weise umkommen?
Mein Mann, der in Libyen wieder Arbeit gefunden hatte, eilte zu mir nach Hause und stand mir bei. Als ich mich wieder etwas gefasst hatte, rief ich meine große Schwester erneut an, um zu erfragen, wie es meiner
Mutter ging. Sie erzählte mir, unser Elternhaus sei bombardiert worden, meine Mutter habe einen Schock erlitten und könne nicht mehr auf ihren Beinen stehen. Seitdem sitzt sie gelähmt, zwischen Bomben und Hunger in Aleppo und ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass ihr jüngster Sohn wieder auftaucht. Ich halte diesen Gedanken nur schwer aus und meine Seele ist bei ihr in unserem Haus in Aleppo. Mein größter Wunsch ist es, meine Mutter zu mir nach Deutschland zu holen, mit Hilfe von Ärzten ihre Beine zu heilen, so dass sie wieder aufrecht stehen kann. Dieser Gedanke wiegt so schwer wie ich nie dachte, dass etwas auf mir lasten kann. Aber ich danke Allah und hoffe, dass die arabischen Länder gesegnet sein werden und eines Tages in Frieden leben, dass meine liebe Heimat Syrien mit Seinem Willen eine bessere Zukunft
haben kann.
Übersetzung: Khaled Al Rifai
Am 26. November 2016 starb Boushra El Dalafs Bruder, der in die Armee eingetreten war, durch eine Bodenmine. Er hinterlässt eine Ehefrau und vier Kinder in Aleppo.

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