Wie kann er das tragen?
Von Laila Ammi
Als ich in der Türkei war, trug ich manchmal eine Traurigkeit in mir, dass ich es morgens kaum schaffte, zur Arbeit zu gehen. Eines Morgens sah ich auf dem Weg zur Arbeit einen Jungen, der mir einige Monate zuvor schon einmal begegnet war. Dem Jungen fehlte ein Bein. Das Bein war ihm amputiert worden, nachdem er in seiner Heimatstadt Aleppo von einer Bombe getroffen worden war. Anschließend war er mit seiner Mutter in die Türkei geflohen. Als ich die beiden das erste Mal gesehen hatte, lebten sie in einer Garage. Mit dem Jungen hatte ich kurz gesprochen, ich glaube, er war traumatisiert. Das war schrecklich anzusehen. Erst sagte er gar nichts. Dann lachte er und weinte plötzlich.
Als ich ihn Monate später wiedersah, saß er auf dem Gehweg und verkaufte Taschentücher. Ich wurde sehr traurig, als ich ihn sah. „Er hat sein Bein noch einmal verloren, und so viel mehr als das“, dachte ich. Jetzt sitzt er auf der Straße, damit seine Familie etwas zu essen hat. Ich setzte mich zu ihm auf den Bürgersteig und küsste seine Wangen. „Erinnerst Du Dich an mich?“, fragte ich ihn mit einem Lächeln. Er lächelte auch, sah mich an und antwortete nicht. Dieses Lächeln, das wie ein Engel über mich flog, und seine unschuldig fragenden Augen sehe ich bis heute vor mir.
Ich kaufte eine Packung Taschentücher von ihm, gab ihm das Geld und sagte, die Taschentücher würde ich später abholen. Das akzeptiere er nicht, sagte er, weil er das Geldstück schon entgegen genommen hatte. Später, als ich mich verabschiedete, zur Arbeit ging und dort meinen Tag verbrachte, begleitete mich immer wieder eine Frage: Wie kann ein Kind diese Last tragen? Auf meinem Weg nach Hause sah ich ihn wieder, setzte mich zu ihm, küsste seine Wangen, wir sprachen und lachten zusammen. Das erleichterte mich sehr. Von da an sprachen wir häufiger miteinander, bis der Tag kam, an dem ich nach Deutschland reisen musste.
„Ich werde mit dem Schiff fahren“, sagte ich zu ihm. Er schaute mich mit traurigen Augen an und sagte: „Bitte geh nicht, der Weg ist sehr gefährlich.“ – „Ich muss gehen“, erklärte ich ihm. Und er versprach, für mich zu beten: „Ich werde Gott bitten, Dich unverletzt und friedlich dort ankommen zu lassen.“ Ich dankte ihm und sagte, dass ich ihn vermissen würde, und er erwiderte das Gleiche.
Ich kaufte eine Packung Taschentücher von ihm, gab ihm das Geld dafür und sagte: „Die Taschentücher hole ich ab, wenn ich das nächste Mal komme.“ Er lächelte.
Jetzt bin ich in Deutschland und jedes Mal, wenn ich an diesen Jungen denke, muss ich weinen. Ich weine um sein Lächeln, das so kindlich war, um seine Augen, die so friedlich waren, obwohl er so viel Leid und Schmerz erfahren hat.
Sein Lächeln und seine Gebete haben mich vor dem Ertrinken gerettet, als ich auf dem Boot nach Europa kam, da bin ich ganz sicher. Nun hoffe ich, dass ich ihn eines Tages wiedersehen werde. Ich möchte ihm danken, dass er mich mit seinen Gebeten begleitet hat.
Dieser Text erschien 2018 in der 11. Ausgabe der Zeitung „Neu in Deutschland“.