Mit Händen und Füßen

Mit Händen und Füßen

Am Anfang steht die Sprachlosigkeit: Wer in ein neues Land kommt, ohne die Landessprache zu verstehen, macht gute und schlechte Erfahrungen. Hier berichten geflüchtete Frauen aus Gera (Thüringen) von Erlebnissen in ihrer neuen Heimat.

Zusammengetragen von Nour Al Zoubi

Als wir nach Deutschland kamen, waren wir zunächst in einem Flüchtlingsheim in einem kleinen Dorf in Thüringen untergebracht. Zum nächsten Supermarkt mussten wir ein ganzes Stück laufen. In der ersten Zeit gingen wir immer zusammen dorthin, die ganze Familie, also sechs Personen. An einem Tag regnete es in Strömen, als wir mit unseren Tüten auf dem Rückweg waren.

Neben uns hielt ein Auto und ein Mann fragte freundlich auf Deutsch, ob wir Hilfe bräuchten. Stellt Euch vor: Er hat uns alle in seinem Auto mitgenommen und zurück zum Heim gefahren. Zwei Mal musste er dafür fahren. Das hat mich sehr glücklich gemacht und an mein Heimatdorf erinnert, wo ich gelernt habe, dass die Menschen einander helfen sollen, auch und vor allem den Fremden.
Fotun

Das einzige Wort, das wir auf Deutsch sagen konnten, als wir nach Gera kamen, war „Danke“. So können Sie sich vielleicht unsere Ratlosigkeit vorstellen, als wir einen offiziellen Brief von einem deutschen Gericht bekamen. Zum Glück kannten wir einen netten deutschen Herrn, der bereit war, uns den Brief mit Händen und Füßen zu erklären. Anschließend hat er uns in seinem Auto bis vor die Tür des Gerichtsgebäudes gefahren. Vor der Tür hat er gewartet (im Gericht wurde uns ein Übersetzer zur Verfügung gestellt) und als wir fertig waren, hat er uns wieder nach Hause gefahren.
Naimeh

Einmal hat mein kleiner Sohn sich bei uns zu Hause verletzt. Ich war noch ganz neu in Deutschland und wusste nicht, was ich tun sollte, an wen ich mich wenden könnte. Mein Mann war nicht zu Hause. Da haben meine Füße mich zu meinen Nachbarn getragen. Ich klingelte bei meinen deutschen Nachbarn, obwohl ich kaum ein Wort Deutsch sprechen konnte. Aber sie verstanden, was ich sagen wollte, kamen in unsere Wohnung und leisteten Erste Hilfe. Sie blieben sogar so lange bei uns, bis mein Mann nach Hause kam – und dann begleitete unser Nachbarn meinen Mann und meinen Sohn ins Krankenhaus, um dort alles zu erklären. Man kann vieles über seine Nachbarn sagen, in allen Ländern – aber ich kann auch von dieser wunderbaren Erfahrung berichten.
Rania

Mein Sohn wurde in Deutschland operiert. Nach der OP stand der Arzt vor mir und erklärte mir, wie es meinem Sohn ging. Leider verstand ich kein Wort von dem, was er sagte. Ich weiß nicht, ob er das gemerkt hat. Jedenfalls hat er auf einmal gelächelt – und da wusste ich, dass es meinem Sohn gut ging.
Iman

Diese Texte erschienen 2019 in der nid-Sonderausgabe FRAUEN. Die Frauen, die hier zitiert werden, leben in Gera (Thüringen).

Negative Erfahrungen gibt es allerdings auch. Zum Beispiel:

Unsere Nachbarin beschimpft uns: Wir seien so laut! Einmal hat sie zu uns gesagt: Immer seid ihr laut, immer spielen Eure Kinder so viel, ich kann nicht in Ruhe hier sitzen.
Wir haben ihr erklärt, dass wir gar keine Kinder haben.
Da schaute sie uns mit großen Augen an und ging weg.
Naimeh

In der Straßenbahn saß neben mir eine deutsche Frau. Sie sah nett aus. Dann trafen sich unsere Blicke. Mein Eindruck war: Als sie sah, dass ich ein ausländisches Gesicht habe, änderte sich ihr freundlicher Blick zu einem ernsten, verschlossenen.
Fotoun

Einmal war ich erstaunt: Unsere deutsche Nachbarn spricht Arabisch! Sie hatte tatsächlich ein paar Worte gelernt. Aber nicht, weil sie die arabische Sprache mochte. Sondern weil sie uns dann auf Arabisch beschimpfen konnte. Damals sprachen wir noch kein Deutsch.
Nourya

Als nid-Redaktionsmitglied Nour Al Zoubi im Herbst 2018 zu einem Bewerbungsgespräch beim Arbeitsförder- und Berufsbildungszentrum Otegau eingeladen war, berichtete sie auch von ihrem Engagement in Bochum und brachte eine Ausgabe der nid-Zeitung mit.  Otegau-Geschäftsführerin Roswitha Schmeller und Jobcenter-Geschäftsführer Enrico Vogel waren von der nid-Zeitung so angetan, dass sie beschlossen haben, eine ähnliche Zeitung in Gera auf die Beine zu stellen. Zum Erfahrungsaustausch trafen sie im Januar 2019 das nid-Team in Bochum.
Im Juli 2019 erschien die erste Ausgabe „Neu in Gera“! Im September besuchte das Bochumer Team die neue Redaktion in Gera. Das nid-Team wünscht den Kolleg*innen in Gera viel Erfolg!

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