Quarantäne

Von Mohammad Almohammad

Ich verließ schließlich das Haus. Sechzehn Tage waren vergangen, in denen ich das Haus nicht verlassen hatte. Meine Wege hatten nur bis in den Hausflur geführt, wo einige wunderbare Freunde, die nicht gezögert haben, mir in diesen schwierigen Zeiten zu helfen, Einkäufe für mich hingestellt hatten. Täglich hatte ich einen Anruf von Daniela bekommen, sie fragte nach meiner Gesundheit, und ob ich etwas brauche. Ich habe gute Verbindungen in Deutschland, ich habe kein Pech in meinem Leben, außer in der Liebe…

Dann verließ ich das Haus. Mein Freund Azhar wartete vor meinem Haus in seinem Auto auf mich. Zum ersten Mal in diesem Jahr trug ich einen Sommerpullover und eine Sonnenbrille, denn das Wetter war sonnig mit hohen Temperaturen. Den Aufzugknopf drückte ich mit größerer Aufmerksamkeit, denn das Virus verbreitet sich überall. Eine innere Stimme flüsterte mir ein: Berühre Dein Gesicht nicht, solange Du außerhalb der Wohnung bist! Es war die Stimme einer jungen Frau, die auf diesem Planeten ihresgleichen sucht.

Durch die Tür trat ich nach draußen, der Geruch von Blumen erfüllte den Ort, die frische Luft drang in meinen Körper, mit einem Geschmack von Freude, der selten meine Lunge besucht. Ich erinnerte mich an einen Satz, den ich zwei Jahren zuvor in einem Buch mit Yusef Sharqawi geschrieben hatte: „Die Atmosphäre draußen ist ganz wunderbar, der Frühling ist zurück, es wird unweigerlich Frühling, wir sind im April und die Sehnsucht ist da. Der Frühling kommt immer verlässlich zurück, außer in unserem Leben. Im Leben kommt der Frühling nur gelegentlich zu uns. Wie sehr wünschte ich, er käme immer im gleichen Monat, dann wären wir nicht so erschöpft, während wir auf ihn warten.“

Ich sagte mir: Was für eine Absurdität! Eine ganze Jahreszeit ist vergangen, seit ich das letzte Mal aus dem Haus gegangen bin! Dann stieg ich zu Azhar ins Auto und wir fuhren in ein kleines Dorf, das nur wenige Kilometer von unserem Wohnort entfernt liegt. Dort werden frische Eier und Honig an den Haustüren verkauft. Die Eierkartons stehen neben den Türen auf kleinen Tischen und daneben steht ein Topf, in den die Menschen Geld werfen. Ganz ohne Aufsicht kann man sich Honig und Eier nehmen und bezahlen.

Als wir ankamen, stand aber gar nichts dort und ich klingelte an einem Haus. Das Geräusch hallte in meinem Kopf wider: Vermeide es, Dinge zu berühren, lege Deine Hände nicht auf Dein Gesicht. Ich drückte die Klingel mit dem Ellenbogen. Niemand antwortete. Ich versuchte es noch einmal, aber es kam kein Lebenszeichen. Mir fiel ein, dass es der Freitag vor Ostern war. Karfreitag. Der Tag, an dem Jesus, dem christlichen Glauben gemäß, gekreuzigt worden ist.

Also ging ich zum Auto zurück und sagte zu meinem Freund: Sie sind nicht hier. Dann fuhren wir über Felder und mir fiel ein weiterer Satz aus unserem Buch ein: „Alle, denen ich begegnete, sagten, das Holz, auf das Jesus geschlagen worden ist, sei hart gewesen.“

Ich vermisse Yusef. Wir reden täglich über die Situation in Damaskus. Jeden Tag fliege ich mit seinen Worten. Er nimmt mich mit auf einen Spaziergang durch Damaskus und ich schaue auf die alten Steine. Dann trinken wir zusammen einen Kaffee im Havanna Café und erinnern uns an unsere Trauer, während hinter uns ein Lied gespielt wird. Alles ist verengt. Als wir in unsere Stadt zurückkehrten, waren die Straßen verlassen und ich sagte zu Azhar: Die Bäume haben geblüht, die Straßen sind mir fremd, ich fühle mich, als wäre ich nicht von hier.

Viele Male bin ich nach Dänemark gereist und einen Monat oder länger geblieben. Bei meiner Rückkehr spürte ich jedoch nicht den Unterschied, den ich jetzt fühle. Oh, wie sehr ich meine Familie vermisse! Ich hatte weitere Reisen nach Dänemark geplant, aber wie fast überall wurden die Grenzen der Länder wegen Corona geschlossen und der Flugverkehr eingestellt. In zwei Monaten sollte der Fastenmonat Ramadan beginnen, den ich in Dänemark bei meiner Familie verbringen wollte. Ich bewegte meinen Kopf, um den Ideen zu entkommen. Das Auto fuhr an Gebäuden vorbei. Dann hielten wir vor einem Geschäft an. Ich stieg aus, es herrschte Stille auf den Straßen. Eine kleine Bewegung von Autos, ein paar Leute an Eingängen mit organisierten Sicherheitsabständen. Ihre Gesichter blass, ihr Aussehen schrecklich. Ich habe mich gefragt: Sind das Fremde oder bin ich seltsam geworden?

Ich bewegte mich noch ein paar Schritte weiter und blieb dann stehen, in meinem Hals fühlte ich etwas stecken. War es ein Schrei des Schmerzes, der seit je in mir klemmte? Oder war das verdammte Virus in meinen Mund oder in meine Nase eingedrungen? Etwas kratzte in meinem Hals, wie ein Virus, der lauernde Mörder der Lungen, der nur auf die Gelegenheit wartet, mich anzuspringen.

Ich bekam Angst und den Wunsch, eine Zigarette zu rauchen, aber. Berühre Dein Gesicht nicht, wenn Du draußen bist. Rauche nicht. Mein Körper braucht das Nikotin, ich fing an zu schwitzen, meine Lunge zuckte, ich versuchte den Husten zu unterdrücken. Es ist jetzt fast ein Verbrechen, wenn jemand hustet. Ich schaute hoch, die Leute blickten zu mir. Was für eine furchtbare Situation.

Es ist so wie vor Jahren, als wir gerade hier angekommen waren. Fremde Blicke, fremde Menschen, eine fremde Sprache. Aber jetzt haben sie nicht nur vor dem Fremden Angst, sondern vor jedem. Nun haben alle Angst vor allen. Ich lief schnell zurück zum Auto, mein Freund kam hinterher und wir stiegen ins Auto ein. Wir fuhren bis zu meiner Wohnung, dann sagte ich zu ihm: „Was ist das für ein seltsamer Wunsch, auf einem hölzernen Stuhl sitzend eine Zigarette zu rauchen? Liegt es daran, dass dies derzeit nicht empfohlen wird? Ist es deshalb wünschenswert geworden?“ – Er erwiderte: „Rauch doch, was wird passieren?“ – „Ich habe die Zigarettenschachtel nicht mitgebracht, damit ich nicht rauche, und trotzdem muss ich zuerst meine Hände waschen.

Hier draußen ist die Zigarette sehr gefährlich.“ – „Hast Du so große Angst?“ – „Ja, ich bin ein Feigling geworden“, sagte ich über mich selbst. „Hast Du vergessen, dass ich ein geschwächtes Immunsystem habe?“ Ich stieg aus und dachte, wie feige ich geworden bin. Die Feigheit ist wie ein Krebs, der in meinen Körper eingedrungen ist, dann hat er sich in den Gefühlen entfaltet. Zuerst wurde ich ein verliebter Feigling, jetzt bin ich durch und durch ein Feigling.

Ich ging in meine Wohnung im fünften Stock und wusch zuerst meine Hände, wischte alle Sachen ab, die ich gekauft hatte. Danach öffnete ich alle Fenster und die Luft traf auf mein Gesicht. Die Vögel draußen auf den Bäumen sangen. Ich machte den Fernseher an, Chopins Musik erfüllte die Wohnung und den Horizont. Ich nahm die Schachtel Zigaretten, die auf dem Tisch lag und sagte nach einem tiefen Atemzug laut vor mich hin: Es ist deine Zeit, meine Liebe. Jetzt bist du das am wenigsten gefährliche Ding. Zum ersten Mal wurde dem Menschen bewusst, dass sein erster Feind der Mensch ist.

Dieser Text erschien 2020 in der 19. Ausgabe der Zeitung „nid – Neu in Deutschland“

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